„Und dann hat man halt drei Jahre lang wieder Leute belastet und vielleicht auch umgebracht“

Immer wieder dient das Neckartor in der Berichterstattung als das Beispiel schlechthin für die zu hohen Feinstaub- und Stickoxidbelastungen in Stuttgart. Wie staubgrau ist die Situation am Neckartor aus der Sicht der dort lebenden Stuttgarter*innen? Eine Perspektive auf die Dinge zeigt sich im Interview mit einem Mitglied der 2006 gegründeten Bürgerinitiative Neckartor und Mitbegründer*in der Ortsgruppe Fuß e.V. Das Herzensanliegen der BI Neckartor ist es, ein Bewusstsein für die Folgen von Feinstaubbelastung in der Stuttgarter Bevölkerung zu schaffen. Und nicht nur die Menschen, die im Kernerviertel leben, sollen beim Thema Saubere Luft mitgenommen werden. 

Was hat Sie dazu motiviert sich für mehr Saubere Luft in Stuttgart einzusetzen?

Das ist schon irgendwo die persönliche Betroffenheit, weil ich just im Jahr 2005, als dann diese Grenzwerte verbindlich wurden für die Kommunen […] per EU-Recht, da bin ich ans Neckartor gezogen, also in das Wohngebiet hinein […]. Plötzlich ist das durch diesen Umzug innerhalb von Stuttgart so ins Bewusstsein gerückt, dass ich jetzt da ganz nah dran bin an so einem Messhotspot.

Spannend ist, dass man überhaupt diesen Ort als wichtigen Messort ausgewählt hat, weil es da wohl auch politische Widerstände dagegen gab, dass man gesagt hat: Das ist ja da, wo so viel Verkehr ist, da wohnen ja gar keine Leute. Und dann hat uns auch der damalige OB […] die Kritiker eines Besseren belehrt und hat gesagt: Ja, wir haben Vorgaben von der EU, wo diese Messstelle zu stehen hat. Da gibt’s strenge Vorgaben und das müssen wir halt so machen. Und trotzdem gab’s dann Politiker auf der lokalen Ebene und in den Bezirken, die dann gesagt haben: Da wohnt niemand. Und das war dann schon interessant, dass das Leute sind, die da wohnen, in der Nähe, aber die ihren eigenen Stadtteil nicht kennen, oder gar keinen Blick, keine Empathie haben, oder sich nicht die Mühe machen genauer hinzukucken.

Über diesen Beitrag:

Verfasst von Dr. Melanie Nagel & Nadine Rechlin
Veröffentlicht am 20.09.2023

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Von alten Verbündeten, die zu neuen Gegnern wurden

Wir sprechen jetzt über einen Zeitraum von 15 Jahren. Also seit 2005 sind wir dran und […] der, der damals einer unserer stärksten Unterstützer war in der Lokalpolitik […] hat damals auf unseren Demos gesprochen und hat rigide Maßnahmen eingefordert et cetera. Heute ist er jemand, der Verständnis versucht zu erwerben dafür, dass [Unternehmensname] mehr Zulaufstrecken hat für die Firma. […] Als Kompensationsmaßnahme sollte die Schwieberdingerstraße in Zuffenhausen zurückgebaut werden, sobald der Rosensteintunnel in Betrieb käme. […] Mehr Fußverkehr, mehr Radverkehr, [und] nur noch einspurig in eine Richtung. Und jetzt steht das zur Disposition, dass man sagt: Ja in der Zwischenzeit arbeiten ja viel mehr Leute [dort] und deswegen müssen wir doch das ändern und müssen denen entgegenkommen. […] Jetzt war aber am Industriestandort Zuffenhausen vor 40, 50 Jahren viermal so viele Leute in der Industrie tätig. Die sind auch alle an ihren Arbeitsplatz gekommen und es waren weniger Autos unterwegs. Und diese Macht dieser Firma, dieser Druck auf die Verwaltung, der ist so stark, das kriegen wir, wenn wir mit denen am Tisch sind gar nicht mit. Und für mich ist das ein bisschen befremdlich […], weil das auf einer persönlichen Ebene dann doch Kontakte waren: Man ist zusammen auf einer Demo und man gibt ihm da das Mikrofon und begrüßt den, und der macht und die Leute sagen: Ja, genau. Und später ist der ganz weit weg und geht halt vielleicht auf einen Verkehrskongress nach Kairo oder so und ist weg.

Von der Angst vor Gesundheitsschäden zum Engagement

Professor Dirkesmann, das war ein Klinikleiter auf der Schillerhöhe […]. Ein Pneumologe, der dann auch ein paar mal auftrat und erklärt hat, wie der Feinstaub wirkt, wie Luftschadstoffe wirken auf den Organismus. Und dann haben wir gleich 2007 dann auch eine öffentliche Veranstaltung gemacht und ihn eingeladen, weil die Leute aufgerüttelt waren und wissen wollten: wie schadet mir das? Ist die Luft so schlecht und wenn ja, was tut ihr dagegen, oder was tut ihr dafür, dass es besser wird, was ergreift ihr für Maßnahmen? Zu dem Zeitpunkt hätte das ja schon erledigt sein müssen, weil dieses Gesetz 1999 beschlossen wurde auf EU Ebene und dann wurde den Kommunen Zeit gelassen bis 2004 und bis dahin sollten dann diese Maßnahmen, diese Aktionspläne in Aktion sein. Implementiert am besten. […] Und so war es halt nicht, das ging dann so auseinander. Und dann kamen Leute zu dieser Veranstaltung aus dem ganzen Stuttgarter Osten, aus Stuttgarter Mitte, und als Professor Doktor Dirkesmann dann gesagt hat, das trifft natürlich Leute, die da näher dranwohnen viel stärker, dann waren die beruhigt. Dann war das für den ein oder anderen dann auch schon erledigt sich da irgendwie zu engagieren für die, die näher dran sind an der Belastung. Und das ist eigentlich so spannend, wie dann die Gesellschaft da schon so ein bisschen auseinandergeht und sagt: Ok, wenn’s mich da persönlich trifft, dann hänge ich mich da rein und wenn’s aber jetzt mein Problem gar nicht ist, warum soll ich mich da engagieren, ich habe ja andere Bedürfnisse, ich will ja da durchfahren. […] Ich wohne ja eh auf dem Land, da ist die Luft eh besser, ich fahr halt dann mit dem Auto in die Stadt rein. Dass da Leute drin wohnen, die nehme ich gar nicht wahr. […] Und da entsteht so eine Schere […]. Und dann wird es schon spannend, seine Mitbürger so zu erleben, der natürlich seine persönlichen Interessen hat, aber in bestimmten Fragen ist zumindest für mich dann schon ein Bedürfnis da, dass man sich auch für Dinge interessiert, die alle angehen.

Haben Sie den Eindruck, dass Sie mit ihrer Bürgerinitiative erfolgreich sind?

Also ich denke, wir haben zumindest was getan für die Entwicklung des Bewusstseins dafür, also dass man diskutiert über das Thema, dass man das bewertet. Dass Menschen sagen: Ja, das ist auch wichtig. Und nicht nur für die paar Hanseln, die da wohnen, oder eigentlich wohnt ja da niemand, das sind ja nur 200 Studenten in einem Studentenwohnheim, die sind auch nicht so wichtig. Dass man das Menschen einfach zugesteht: ein Grundrecht in unserer Gesellschaft auf ähnliche Bedingungen, wie die anderen auch. Und dass man sich freimacht von der Vorstellung, dass Wohlstand eine Industrie ist, ein Industriezweig, der eben auch kurzlebig ist.

Von Cash Cows und dem Zögern der Politiker*innen

Und dann kommt die Gegenseite mit rein, die ganz viel Geld damit macht, mit der Mobilität, mit der Klassischen, die man jetzt hat und das wollen die sich nicht aus der Hand nehmen lassen. Weil das ist eine cash cow und die wird ausgesaugt bis zum Ende. […] So lange es halt irgendwie geht. Und komischerweise meinen die Politiker, das ist zumindest meine Wahrnehmung, dass sie da immer so ein bisschen entgegenkommen müssen. Selbst aus Wirtschaftskreisen wird verlangt, setzt doch klare Bedingungen, damit wir wissen in welche Richtung wir dann entwickeln, machen, tun. Wobei ich glaube an dieser Unentschlossenheit, dieses Zaudern der Politik, da kommt man eigentlich dann den Wirtschaftsunternehmen noch entgegen. […] Die räumen dieses Feld nicht einfach und sagen: Dann machen wir das ganze mit weniger Autos. Aber die Marktmacht ist stark und der Einfluss auf die Politik. Ich würde das nicht mal Einfluss nennen. […] Das Druckmittel sind immer die Arbeitsplätze und das nächste sind dann immer die Steuereinnahmen, dass die sagen: Wenn wir weg sind, dann habt ihr da nichts mehr. Und es ist schon auch spannend, wie man beim Thema Luft so zögerlich ist und beim Thema Infektionserkrankungen, Infektionsschutz klare Kante zeigt. Und wirklich schmerzhafte Mittel da auspackt. Weil das möglicherweise im Bewusstsein der Bevölkerung eine stärkere Gefahr ist, die aber genauso unsichtbar ist: Viren. Aber die Luftschadstoffbelastung schwächt ja auch unser Immunsystem, aber das wird so geopfert.

Wenn Sie staatliche Institutionen ansprächen, welche Maßnahmen würden Sie denn jetzt fordern?

Die Maßnahmen, die sind uralt und bekannt, du musst an der Stelle den Verkehr so reduzieren, dass die Konzentration geringer ist, oder unter dem Grenzwert. Du könntest auch ambitionierter sein als Politik, dass man sagt: Wir übernehmen die Grenzwertempfehlungen der WHO, die ja halb so hoch sind, wie das was die EU angesetzt hat. […] Dann erwarte ich von der Politik, dass sie für die Menschen, die da wohnen Maßnahmen ergreifen. Und da hilft nur Reduzieren durch Verkehrsbeschränkung und das ist ein anderes Wort für ein Fahrverbot. Und das Benutzen des Wortes Verbot, die Verbotsdiskussion das ist eigentlich total irre. […] Dabei leben wir in einer Gesellschaft der Gebote und Verbote, sonst funktioniert es ja gar nicht. […] Und die haben das Recht, wie alle anderen, auf ein bestimmtes Qualitätslevel und das muss man einhalten. Und dann sind die Behörden da aufgefordert zu handeln.

Die nächste Forderung an die Politik wäre natürlich insgesamt Mobilität umzubauen. Also wenn das eine politische Forderung wäre, zu reagieren auf eine hohe Luftschadstoffbelastung, dann könnte ich ja hergehen und sagen: Ich eröffne jetzt zwar den Rosensteintunnel, aber ich setze diese Maßnahmen, die als Ausgleichsmaßnahmen beschlossen wurde sofort um. So schnell wie möglich, sobald der eröffnet wird.

Ich mache es mir ja vielleicht auch leicht als BI, wenn ich sag: Reduziert das Verkehrsaufkommen mit schädlicher Emission. Dann sagen die: Ja, wie sollen wir das machen? Dann ist die Frage: Ist es meine Aufgabe denen zu sagen, wie sie es machen sollen? Ich fordere: Reduziert! Wir haben Emissionen und die Quellen der Emissionen, die müssen einfach eingehegt werden. Das ist physikalisch ja irgendwie auch logisch. Und dann wird gesagt: Ok, dann machen wir halt neue Dieselabgasreinigung. Die Industrie entwickelt neue Systeme, dass die Luft eben sauber ist, dass da nicht soviel Dreck rauskommt aus dem Diesel. Und dann sagt wieder die eine politische Fraktion: Das lösen wir technisch. […] Und dieses Argument über die Technik Lösungen zu finden, dass ist uralt und schwer zu durchbrechen. Und selbst die Universitäten hier, die Automobilindustrie schaut, dass sie da überall einen Fuß mit reinkriegt in die technische Entwicklung. […] Und dann wartet man auf darauf und sagt: Ja, die technische Lösung kommt, wir werden das merken, in zwei, drei Jahren hat dann jeder so ein sauberes Auto mit Abgasreinigung, die dann funktioniert. Und dann stellt man fest, es geht nicht. […] Und dann hat man halt drei Jahre lang wieder Leute belastet und vielleicht auch umgebracht, aber das kriegt man halt nicht mit. Die waren halt zu schwächlich. Zu schwach für diese Welt.

Das Aschenputteldasein des ÖPNV

Stuttgart, da wird ja auch der Ministerpräsident nicht müde das zu sagen, Baden-Württemberg ist halt ein Autoland. Jeder Bürgermeister in Stuttgart sagt: Man muss da auch mit dem Auto hinkommen, das ist halt eine Autostadt. […] Und dann kommt ganz schnell noch so ein Begriff mit rein, das ist der Wohlstand. Und dann frage ich mich, […] was meinen die mit Wohlstand? Wer hat hier die Deutungshoheit? Das wichtigste wäre ja die gute Luft, weil sonst hat man vom Wohlstand nix, wenn man am Ende nicht mehr atmen kann.
In den Köpfen der Stuttgarter ist mobil sein das Autofahren. […] Stuttgart ist wirklich ein ganz hartes Pflaster bei der Geschichte. Und das hängt einfach mit der industriellen Tradition zusammen. Das kann man gar nicht voneinander trennen hier. Und das wirkt über Generationen auf die Leute und die Leute haben auch dann diese Existenzängste, weil sie sagen: Sie verbinden ihren Wohlstand und ihre Existenz und ihre Identität so sehr mit dem Automobil, dass das Leute, glaube ich, auch richtig stresst die Vorstellung, das könnte bald so nicht mehr sein. Und das ist irgendwie schade.

Über die vielen Stuttgarter*innen, die aber auf den individuelle, motorisierte Verkehrsmöglichkeit verzichten und stattdessen den ÖPNV in Stuttgart nutzen wird im Interview zuletzt gerühmt: Das sind eigentlich die Klimaheldinnen und Klimahelden–verantwortungsbewusst und solidarisch.

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