Rezension: Ein zweiter Beitrag zu „Die Ökonomie des Alltagslebens“

Die moralische Verfassung der Fundamentalökonomie

In dem Buch „Die Ökonomie des Alltagslebens“ führt das AutorInnenkollektiv Foundational Economy Collective die Fundamentalökonomie als ein analytisches Konzept ein (vgl. „Das Konzept der Fundamentalökonomie“ in diesem Blog). Es geht von den für die Menschen gleichermaßen unverzichtbaren Gütern und Dienstleistungen des Alltagslebens aus und weist die mit deren Her- und Bereitstellung beschäftigten wirtschaftlichen Aktivitäten als einen besonderen Teil der Volkswirtschaft, eben als Fundamentalökonomie aus. Besonders sind die Güter und Dienstleistungen, um die es in diesem Teil der Volkswirtschaft geht; besonders sind aber auch die einzelwirtschaftlichen Aktivitäten, wobei sie ihre Besonderheiten über die besonderen Güter und Dienstleistungen „beziehen“, mit deren Her- und Bereitstellung sie beschäftigt sind. Allerdings vertraut das AutorInnenkollektiv diesem Konzept nicht ganz – und bemüht sich um eine moralische Grundlegung der in der Fundamentalökonomie erstellten konstitutiven Güter und Dienstleistungen. Indem Menschen moralische Ansprüche auf deren Inanspruchnahme haben, werden die ProduzentInnen dieser Güter und Dienstleistungen, darunter auch einzelwirtschaftliche Unternehmen, entsprechend stark verpflichtet. Die Fundamentalökonomie erhält so eine moralische „Verfassung“ (144).

Moralische Ansprüche auf ein gutes Leben

Um diese Verfassung zu rekonstruieren, greift das AutorInnenkollektiv den

Befähigungsansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum auf. Darüber kann es starke moralische, dabei universelle Rechte begründen, sich gleichwohl für Kontext und Kultur sensibel halten und kann historische Veränderungen berücksichtigen. Universal gültig sollen die moralischen Ansprüche der NutzerInnen „gemacht“ werden, damit in den Territorien die sich dort aufhaltenden Menschen unabhängig von ihrem Staatsbürgerstatus und damit Menschen auch jenseits der Grenzen der Territorialstaaten anspruchsberechtigt gemacht werden können. Das AutorInnenkollektiv distanziert sich daher ausdrücklich von Thomas H. Marshall und seinem Konzept der sozialen (Staats-)Bürgerrechte. „Die Bereitstellung bestimmter Güter und Dienstleistungen entspringt einer Vorstellung vom guten Leben, obwohl dies nur selten so explizit und gehoben formuliert wird“ (156). Auf dieser Grundlage werden alle Menschen gleichermaßen berechtigt – und zwar in den sozialen Räumen, in denen sich die Fundamentalökonomie jeweils bewegt und
gegebenenfalls auch jenseits von Territorialstaaten.

Diese moralische „Verfassung“ der Fundamentalökonomien muss einer und einem nicht sonderlich plausibel werden: Indem den für alle Menschen unverzichtbaren Gütern und Dienstleistungen eine moralische Grundlage gegeben wird, wird die Kontingenz der für den Alltag unverzichtbaren Güter und Dienstleistungen – entgegen der Anliegen des AutorInnenkollektivs – verringert. Zudem wird sie in einer Vorstellung vom guten Leben begründet, die für plurale Gesellschaften – und zumal in dem intendierten „Jenseits“ zu den Nationalstaaten – recht unwahrscheinlich ist. Schließlich löst sich im universalistischen „Jenseits“ zu den Nationalstaaten die Möglichkeit, jedenfalls die Wahrscheinlichkeit auf, dass Menschen ihre Ansprüche auf die für sie unverzichtbaren Güter und Dienstleistungen jenseits ihrer Kaufkraft gegenüber den Produzenten mit Verkaufsabsichten durchsetzen können. Aus diesen und vermutlich weiteren Gründen könnte man es vorziehen, die von Menschen in einer politischen Gemeinschaft gleichermaßen beanspruchten Güter und Dienstleistungen zunächst einmal ohne eine Vorstellung vom guten Leben zu erheben – und dann damit zu rechnen, dass in den politischen Gemeinschaften zumindest einige dieser Güter und Dienstleistungen aus moralischen Gründen, dabei eher aus Gründen der Gerechtigkeit und nicht mit Aussicht auf ein gutes Leben, als starke Ansprüche konzipiert werden.

Über diesen Beitrag

Verfasst von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse 
Veröffentlicht am 7. September 2020

Rezensiertes Werk

Foundational Economy Collective (2019): Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Weitere Blogbeiträge zur Fundamentalökonomie

Links

Website des Foundational Economy Collective: https://foundationaleconomy.com/

Bildquellen

Buchdeckel: https://www.suhrkamp.de/buecher/ die_oekonomie_ des_alltagslebens-foundational_economy_collective_12732.html

 

Abgrenzung von Thomas H. Marshall

Das AutorInnenkollektiv distanziert sich daher ausdrücklich von Thomas H. Marshall und
seinem Konzept der sozialen (Staats-)Bürgerrechte. „Die Bereitstellung bestimmter
Güter und Dienstleistungen entspringt einer Vorstellung vom guten Leben, obwohl
dies nur selten so explizit und gehoben formuliert wird“ (156). Auf dieser Grundlage
werden alle Menschen gleichermaßen berechtigt – und zwar in den sozialen
Räumen, in denen sich die Fundamentalökonomie jeweils bewegt und
gegebenenfalls auch jenseits von Territorialstaaten.

Berechtigte BürgerInnen

Bürger sollten fundamentale Güter nicht nur nutzen, sondern bei ihrer Bereitstellung und Inanspruchnahme mitreden können. Foto: Random Institute on Unsplash

Wenn man aber von der konkreten Durchführung absieht, ist es plausibel, dass die Fundamentalökonomie eine moralische „Verfassung“ hat: Weil mit moralischen Ansprüchen versehen, erscheinen die NutzerInnen der fundamentalen Güter und Dienstleistungen als dazu berechtigte BürgerInnen. Dementsprechend können sie die fundamentalen Güter und Dienstleistungen nicht nur „mit gutem Gewissen“ in Anspruch nehmen, sondern können bei deren Auswahl sowie bei der Art ihrer Bereitstellung und Inanspruchnahme „ein Wörtchen mitreden“, zumindest sollten sie dies können. Die Mitspracherechte bestehen gegenüber den ProduzentInnen der fundamentalen Güter und Dienstleistungen, auch gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen; sie bestehen auch gegenüber staatlichen Institutionen, über welche die öffentliche Kontrolle der in der Fundamentalökonomie tätigen Unternehmen und gemeinnützigen Einrichtungen erfolgt.

Verpflichtete ProduzentInnen

ProduzentInnen sind ebenfalls von der moralischen Verfassung der Fundamentalökonomie betroffen: Sie haben sich den Spielregeln und Wertsetzungen dieser Gemeinschaft unterzuordnen. Foto: Chris Yang on Unsplash.

Folgenreich ist die moralische Verfassung der Fundamentalökonomie also auch für die ProduzentInnen: Als AdressatInnen der moralischen Ansprüche der NutzerInnen gehören sie mit zu deren moralischen Gemeinschaft. Entsprechend haben sie sich den Spielregeln und Wertsetzungen dieser Gemeinschaft unterzuordnen. Wird ihnen gestattet, sich an der Herstellung der konditionalen Güter und Dienstleistungen zu beteiligen, werden ihnen zugleich die Bedingungen auferlegt, unter denen sie die Güter und Dienstleistungen herstellen, die von allen BürgerInnen in Anspruch genommen werden können sollen.

Diesen Grundgedanken baut das AutorInnenkollektiv für die privatwirtschaftlichen Unternehmen aus: Wer „in der Fundamentalökonomie tätig ist, sollte nicht als private Gesellschaft, sondern als öffentliche Körperschaft gelten – und zwar unabhängig davon, ob es sich um private Konzessionäre, gemeinnützige Betreiber, Genossenschaft etc. handelt. [..] Sind die Einrichtungen, die fundamentalökonomische Leistungen erbringen, erst einmal als öffentliche Körperschaften anerkannt, sollten sie an denselben ethischen Maßstäben gemessen werden wie öffentliche Einrichtungen. Darüber hinaus sollten für einzelne große Anbieter im Rahmen eines Systems der gesellschaftlichen Lizensierung verbindliche und auf den jeweiligen Bereich abgestimmte Vorgaben festgelegt werden“ (174). Mit dieser Idee der „Unternehmensbürger“ (164) verfolgt das AutorInnenkollektiv eine zur jüngeren bundesdeutschen Sozialpolitik entgegengesetzte Richtung: Hatte man dort einzelwirtschaftliche Unternehmen mit den gemeinnützigen Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege gleichgestellt und dadurch diese, also die gemeinnützigen Einrichtungen unter eine betriebswirtschaftliche Logik gezwungen, sollten sich die Unternehmen, die sich in der Fundamentalökonomie engagieren dürfen, wie gemeinnützige Einrichtungen verhalten müssen.

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