Rezension: Ein dritter Beitrag zu „Die Ökonomie des Alltagslebens“

Politische Ökonomie des Alltagslebens

In dem Buch „Die Ökonomie des Alltagslebens“ beschäftigt sich das AutorInnenkollektiv Foundational Economy Collective mit den Besonderheiten des Teils der Volkswirtschaft, in dem man mit der Her- und Bereitstellung der Alltagsrelevanten Güter und Dienstleistungen beschäftigt ist (vgl. „Das Konzept der Fundamentalökonomie“ in diesem Blog). Diese Besonderheiten ergeben sich aus den Besonderheiten ebendieser Güter und Dienstleistungen, sofern diese für alle Menschen gleichermaßen unverzichtbar sind und insofern alle Menschen, unabhängig von ihren Einkommen, auf deren Her- und Bereitstellung angewiesen sind. Werden diese strukturellen Besonderheiten missachtet oder verletzt, wirkt sich dies – wie in dem in den 1980er Jahren begonnenen Umbau – destruktiv auf die Fundamentalökonomie aus. Was für die Menschen, die auf die konstitutiven Güter und Dienstleistungen angewiesen sind, misslich ist, kommt der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Fundamentalökonomie entgegen: Über die destruktiven Wirken kann das AutorInnenkollektiv, gleichsam durch negative Analyse, deren strukturelle Besonderheiten aufklären.

Die strukturellen Besonderheiten der Fundamentalökonomie

Die fundamentalen Güter und Dienstleistungen werden im Allgemeinen kollektiv bereitgestellt, wobei die Nutzung von der Struktur der jeweiligen  Versorgungsnetze abhängig ist. Diese Netze müssen vorausschauend für eine Zahl potentieller NutzerInnen, deswegen aber auf der Grundlage von normativen Überlegungen geplant werden. Für die Herstellung der fundamentalen Güter und Dienstleistungen werden Menschen beschäftigt, deren Arbeitskraft dem internationalen Wettbewerb entzogen ist, deren Arbeitsbedingungen deshalb lokal festgelegt werden können. Während in der providentiellen Fundamentalökonomie ein starker Personaleinsatz notwendig ist, dafür aber nur ein vergleichsweise geringer Investitionsbedarf besteht, sind in der materiellen Fundamentalökonomie hohe, dafür aber langfristige und gelegentlich auch „mehr oder weniger einmalige Investitionen“ (80) notwendig. Während in der providentiellen Fundamentalökonomie die Kosten für gewöhnlich nicht an die NutzerInnen weitergegeben werden (können bzw. dürfen), lassen sich die Kosten der materiellen Fundamentalökonomie – zumindest über lange Zeitstrecken hinweg – wieder hereinholen.

Diese und andere Besonderheiten finden sich über den Text hinweg verstreut. Es hätte sich gelohnt, sie in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Bei dem Stand der Ausarbeitung bleiben die Besonderheiten recht unverbunden, deren jeweiliger Status wird nicht geklärt. Aber bereits so wird deutlich, dass in der Fundamentalökonomie mehr als nur Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität bestehen (sollen), wie dies für gewöhnlich für öffentliche Güter rekonstruiert wird. Besonders hervorgehoben wird in dem Buch, dass die angesprochenen Besonderheiten dazu führen, dass in der Fundamentalökonomie – auch nach hohen Investitionen – nur geringe Renditen möglich, dass im Gegenzug aber auch die Risiken der Investitionen gering sind.

Über diesen Beitrag

Verfasst von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse 
Veröffentlicht am 7. September 2020

Rezensiertes Werk

Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.

Weitere Blogbeiträge zur Fundamentalökonomie

Bildquellen

Buchdeckel: https://www.suhrkamp.de/buecher/ die_oekonomie_ des_alltagslebens-foundational_economy_collective_12732.html

Staatsbedürftigkeit

Eine genauere Vorstellung von der Staatsbedürftigkeit der fundamentalen Güter und
Dienstleistungen und – in Korrespondenz dazu – eine Vorstellung von der staatlichen
Verantwortung für deren Gewährleistung würde dem Konzept der
Fundamentalökonomie
nicht schaden.

Der Staat in der Fundamentalökonomie

Die Staatsbedürftigkeit der Fundamentalökonomie zieht sich durch das gesamte Buch hindurch. Foto: Free To Use Sounds on Unsplash.
Eine genauere Vorstellung von der Staatsbedürftigkeit der fundamentalen Güter und Dienstleistungen sowie der staatlichen Verantwortung für deren Gewährleistung würde dem Konzept der Fundamentalökonomie nicht schaden. Foto: Daniel Tausis on Unsplash.

Die Rolle, die der Staat in der Fundamentalökonomie spielt, wird in dem Buch nicht systematisch aufgeklärt. Dies dürfte damit zu tun haben, dass die Staaten wesentlich für den Umbau der Fundamentalökonomie ursächlich waren und dass das AutorInnenkollektiv auch für die Zukunft mit staatlichen Verwaltungen rechnet, die gegenüber der Fundamentalökonomie nicht „wohlmeinend oder kompetent“ (225) sind. Man „geht [..] von der Einsicht aus, dass öffentliche Politik zur Erneuerung der Fundamentalökonomie zu wichtig ist, als dass man sie allein den von der Verfassung vorgesehenen Regierungsinstitutionen überlassen könnte, die sich gegenwärtig ohnehin in einer (strukturell und ideell) schwachen Position befinden“ (ebd.).

Gleichwohl zieht sich durch das gesamte Buch die „Staatsbedürftigkeit“ der Fundamentalökonomie hindurch, wie sie einst der Staatsrechtler Ernst Forsthoff für die Daseinsvorsorge behauptet hatte. Immer wieder wird angesprochen, dass sowohl die materielle Fundamentalökonomie und die dafür notwendigen langfristigen Investitionen, als auch die providentielle Fundamentalökonomie mit ihren geringen Einnahmemöglichkeiten nur unter staatlicher Aufsicht, unter staatlichem Schutz und mit staatlicher Finanzierung betrieben werden kann – und dies selbst dann, wenn der Staat durch Privatisierung und Outsourcing weite Teile der Fundamentalökonomie privatwirtschaftlichen Unternehmen überlassen hat. Auch
dann muss der Staat für die den Unternehmen überlassene Fundamentalökonomie
einstehen und zum Beispiel den „Kapitalstreik“ oder fehlende Kaufkraft bei den
NutzerInnen kompensieren.

Im Schlusskapitel, in dem das AutorInnenkollektiv eine Politik der Vitalisierung der Fundamentalökonomie zu orientieren sucht, wird der Staat in den „hybriden Allianzen“ auf lokaler und regionaler Ebene ein wenig verborgen, so dort die Kommunen nicht als Teil des Staates angesprochen werden. Doch auch in diesem Kapitel wird der Zentralstaat ausdrücklich in Anspruch genommen, wird von ihm u.a. eine ausreichende Finanzierung und dafür ein hinreichend umfangreiches, dabei zugleich ausgleichendes Steueraufkommen sicherzustellen sowie die Möglichkeiten der öffentlichen Kontrolle der Fundamentalökonomie zu schaffen gefordert.

Eine genauere Vorstellung von der Staatsbedürftigkeit der fundamentalen Güter und
Dienstleistungen und – in Korrespondenz dazu – eine Vorstellung von der staatlichen Verantwortung für deren Gewährleistung würde dem Konzept der Fundamentalökonomie nicht schaden. Würde man dabei auch den normativen Gründen der staatlichen Gewährleistungsverantwortung nachgehen (vgl. „Die moralische Verfassung der Fundamentalökonomie“ in diesem Blog), würde man vermutlich bei so etwas wie den sozialen Bürgerrechten landen, die Thomas H. Marshall als Ansprüche der BürgerInnen an ihren Staat formuliert hatte, – und die das AutorInnenkollektiv zugunsten des Befähigungsansatzes verworfen hat.
Womöglich würde man dann entdecken, dass die Bürgerrechte von Marshall keineswegs exklusivistisch konzipiert wurden. Mit einem stärkeren Staatsbezug könnte man auch die Probleme realistischer und ernsthafter diskutieren, dass über die Territorialstaaten die Bedarfe von Menschen als deren Rechte anerkannt und erfüllt werden müssen, – realistischer und ernsthafter jedenfalls, als es mit der moralischen Überwindung der Territorialstaaten möglich ist, die in dem Buch projektiert wird.

„Die Ökonomie des Alltagslebens“ bietet eine starke Politische Ökonomie eines relevanten Bereichs der Volkswirtschaften zumindest in den reichen Gesellschaften des globalen Nordens. Damit bietet sie unserem Forschungsprojekt eine konzeptionelle Grundlage – nicht in Opposition zum Konzept der „öffentlichen Güter“ und dem der staatlichen Gewährleistung,aber als eine starke „produktivistische“ Ergänzung, die wir in unserem Forschungsprojekt aufgreifen sollten.

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