Rezension: Ein erster Beitrag zu „Die Ökonomie des Alltagslebens“

Das Konzept der Fundamentalökonomie

In unserem Forschungsprojekt untersuchen wir die Wohnraumversorgung, die ambulante medizinische Versorgung sowie die „Saubere Luft“ als öffentliche Güter. Mit dem Konzept der Öffentlichen Güter haben wir erstens eine nachfrage- und konsumbezogene und zweitens eine staatsbezogene Grundhaltung zu unseren Untersuchungsgegenständen eingenommen. Öffentliche Güter zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie von allen Anspruchsberechtigten in Anspruch genommen werden können; und sie bedürfen des Staates, weil deren allgemeine Inanspruchnahme nur dann möglich, zumindest wahrscheinlich ist, wenn staatliche Institutionen bei der Bereitstellung dieser Güter beteiligt sind. In dem Buch „Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik“ bietet das AutorInnenkollektiv, das Foundational Economy Collective, dazu eine alternative Konzeption. Unter dem Begriff der Fundamentalökonomie nimmt das Buch „eine produktivistische Orientierung“ (19), so Wolfgang Streck in seinem Vorwort, ein – und zwar auf diejenigen „Güter und Dienstleistungen [..], welche die soziale und materielle Infrastruktur des zivilisierten Lebens ausmachen, weil sie allen Haushalten einer Volkswirtschaft unverzichtbare Alltagsgüter zur Verfügung stellen“ (35f.). Mit der Her- und Bereitstellung dieser fundamentalen Güter ist ein relevanter, auch quantitativ umfangreicher Teil der Volkswirtschaften beschäftigt. Diesen Teil, also die Fundamentalökonomie, will das AutorInnenkollektiv sichtbar machen und deren Besonderheiten gegen die monolithische Sichtweise von „der Wirtschaft“ aufklären. Darüber hinaus will es eine Politik der Vitalisierung der Fundamentalökonomie orientieren, die diesen Besonderheiten besser Rechnung trägt, als dies in den vergangenen Jahrzehnten mit der „Politik der Privatisierung, Auslagerung und der Kürzungen von Leistungen“ (89) geschehen ist.

Die Fundamentalökonomie

Bei der „Ökonomie des Alltagslebens“ geht es – den Gegenständen nach – um die Güter und Dienstleistungen, die man auch mit den Begriffen der Daseinsvorsorge, der öffentlichen Güter oder der Gemeingüter, auch der Infrastruktur anspricht. Während sie mit diesen Konzepten von vornherein in die Nähe staatlicher Gewährleistung gerückt werden, weist man im Konzept der Fundamentalökonomie zunächst einmal „nur“ den Bedarf der sie nutzenden Menschen aus: Um ihren Alltag zu leben, nehmen alle Menschen in einer Gesellschaft Tag für Tag notwendigerweise und selbstverständlich zahlreiche Güter und Dienstleistungen in Anspruch. So bezieht eine jede und ein jeder – und dies unabhängig vom persönlichen Einkommen – Strom aus der Steckdose, benutzt das Gas aus der Gas und Wasser aus der Wasserleitung. Man fährt mit dem Bus zur Arbeit; und den Zug nutzt man für die Dienst- oder Urlaubsreise. Fühlt man sich krank, geht man zur Ärztin oder zum Arzt. In Notfällen ruft man einen Krankenwagen, der Patienten in die Notfallstation eines Krankenhauses bringt. Diese und viele andere Güter und Dienstleistungen sind – „in den Ländern mit hohen Einkommen“ (51) – für das Alltagsleben aller fundamental, was den sie nutzenden Menschen vor allem dann auffällt, wenn sie ausfallen. „In solchen Fällen müssen Behörden und Politik die Fehler möglichst rasch beheben“ (50f.), zumindest erwarten das die Menschen von ihren Behörden und von der Politik – und sind entsprechend empört, wenn denen die gewohnte Bereitstellung nicht schnell genug gelingt.

Über diesen Beitrag

Verfasst von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse 
Veröffentlicht am 7. September 2020

Rezensiertes Werk

Foundational Economy Collective (2019): Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin: Suhrkamp Verlag.

Weitere Blogbeiträge zur Fundamentalökonomie

Bildquellen

Buchdeckel: https://www.suhrkamp.de/buecher/ die_oekonomie_ des_alltagslebens-foundational_economy_collective_12732.html

Die Nutzung von Leistungen wie dem öffentlichen Nahverkehr ist für viele Menschen im Alltag verankert und aus diesem nicht wegzudenken. Foto: Jordan Rowland on Unsplash
Neben der materiellen spielt auch die providentielle Fundamentalökonomie eine wichtige Rolle. Dazu zählt beispielsweise auch die medizinische Versorgung. Foto: Hush Naidoo on Unsplash.

Diese für den Alltag unverzichtbaren Güter und Dienstleistungen müssen hergestellt und auf die sie benötigenden Menschen verteilt werden – und dafür sind wirtschaftliche Aktivitäten notwendig. Sie machen einen wesentlichen, aber häufig übersehenen Teil der Volkswirtschaften aus. Die Gesamtheit der für den Alltag unverzichtbaren Güter und Dienstleistungen notwendigen Aktivitäten macht die Fundamentalökonomie aus – und dies erst einmal unabhängig davon, wer diese Aktivitäten wie und unter welchen Bedingungen ausführt (vgl. 64f.).

Bei der Fundamentalökonomie hat man es zunächst einmal mit der Versorgung mit Wasser und Strom, mit der Wohnraumversorgung, dem Verkehr und Bankdienstleistungen sowie mit der Lebensmittelversorgung zu tun. Bei all diesen Aktivitäten sind Rohre und Kabel, Versorgungs- und Filialnetze notwendig, um die Haushalte mit den für sie unverzichtbaren Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Diese „materielle Fundamentalökonomie“ (65) unterscheidet das AutorInnenkollektiv von der „providentiellen Fundamentalökonomie“ (66). Das Adjektiv wird in der deutschen Übersetzung auf das englische Verb ‚to provide with‘ bzw. ‚.. for‘ in der Bedeutung von ‚versorgen mit‘ und ‚sorgen für‘ zurückgeführt. Bezeichnet werden damit etwa Dienstleistungen in der medizinischen oder pflegerischen Versorgung, der Bildung und der sportlichen Aktivität, aber auch Leistungen der Einkommenstransfers und deswegen auch die Sozialversicherungen.

Über das Adjektiv ‚providentiell‘ wird für diesen Bereich angedeutet, dass sich „jemand“ sorgt und dass diese / dieser „jemand“ Menschen versorgt. Jedoch konzipiert das AutorInnenkollektiv diesen zweiten Bereich dann doch vom Staat her: Es sind vielfach Leistungen, die von staatlichen Institutionen bereitgestellt werden. In der Beschreibung entspricht die providentielle Fundamentalökonomie dem Umfang nach dem Leistungsspektrum des erweiterten Wohlfahrtsstaats, geht aber vermutlich auch darüber hinaus. Sosehr die Unterscheidung der beiden Bereiche einleuchtet, so wenig passt die vom Staat als der „Quelle des Wohlergehens“ ausgehende Konzeptualisierung des zweiten Bereichs und damit auch deren Kennzeichnung mit dem Adjektiv ‚providentiell‘. Zumindest hätte man erwartet, dass auch dieser Bereich von den wirtschaftlichen Aktivitäten her begriffen würde, die für die Her- und Bereitstellung der für die alltägliche „Für-“ und „Daseinsvorsorge“ unverzichtbaren Güter und Dienstleistungen notwendig sind und dass zur Unterscheidung ein Pedant zu den Rohren und Kabeln, zu den Versorgungs- und Filialnetzen der materiellen Fundamentalökonomie angegeben würde.

 

Providentiell

Das Adjektiv wird in der deutschen Übersetzung auf das englische Verb ‚to provide with‘
bzw. ‚.. for‘ in der Bedeutung von ‚versorgen mit‘ und ‚sorgen für‘ zurückgeführt.
Bezeichnet werden damit etwa Dienstleistungen in der medizinischen oder
pflegerischen Versorgung, der Bildung und der sportlichen Aktivität, aber auch
Leistungen der Einkommenstransfers und deswegen auch die Sozialversicherungen.

Unverzichtbare Güter

Welche Güter und Dienstleistungen für die Gesellschaft fundamental sind, lässt sich nicht eindeutig klären. Foto: Ryoji Iwata on Unsplash.

Durch den sachlichen Einstieg bei den alltäglich und selbstverständlich in Anspruch
genommenen Gütern und Dienstleistungen ist das Konzept der Fundamentalökonomie nicht sonderlich präzise und eindeutig. Welche Güter und Dienstleistungen in diesem Sinne für alle fundamental sind und welche wirtschaftlichen Aktivitäten deshalb zur Fundamentalökonomie gehören, das lässt  sich nicht genau klären. Vermutlich wird auf mehr Güter und  Dienstleistungen referiert, als man mit Begriffen wie ‚Daseinsvorsorge‘ und ‚öffentliche Güter‘ in den Blick nimmt. Mit der fehlenden Präzision und Eindeutigkeit würde man besser klarkommen, wenn sie im Konzept genauer reflektiert würde. Dazu wäre es hilfreich, man wüsste auf einer abstrakteren Ebene für alle referierten Güter und Dienstleistungen, wieso und in welcher Hinsicht sie über alle Einkommen hinweg als unverzichtbar gelten.

Dafür müsste man allerdings nicht nur wissen, dass sie von allen genutzt werden.
Man müsste darüber hinaus wissen, mit welchen sozialen Bedeutungszuschreibungen diese Güter und Dienstleistungen versehen werden. Dass unverzichtbare Alltagsgüter über entsprechende Bedeutungszuschreibungen „entstehen“, deutet sich u.a. im Hinweis auf die variable Grenze zwischen Fundamentalökonomie und „unscheinbarer Ökonomie“ sowie in der Referenz auf „Länder mit hohen Einkommen“ an. Deutlicher wird dies im vierten Kapitel des Buches, in dem die für den Alltag unverzichtbaren Güter und Dienstleistungen in moralischen Ansprüchen von Menschen begründet werden (vgl. „Die moralische Verfassung der Fundamentalökonomie“ in diesem Blog). Dabei werden nicht sachlich „fertige“ Güter und Dienstleistungen „nachträglich“ Menschen zugesprochen. Vielmehr werden über moralische Ansprüche entsprechende Güter und Dienstleistungen in ihrer besonderen Bedeutung als Güter geschaffen. Worauf das Autorenkollektiv also Bezug nimmt, das sind all diejenigen Güter und Dienstleistungen, die in den „Ländern mit hohen Einkommen“ alle Mitglieder einer Gesellschaft in Anspruch nehmen können und nehmen können sollen, die deshalb so her- und bereitgestellt werden sollen, dass sie von allen in Anspruch genommen werden können. Versteht man das Konzept der Fundamentalökonomie so, dann nähert man sich dem Konzept der Daseinsvorsorge und dem der öffentlichen Güter an, gründet es nämlich wie diese auf die allgemeine Inanspruchnahme der in einer Gesellschaft zusammenlebenden Menschen.

Fehlende Präzision

Vermutlich wird auf mehr Güter und Dienstleistungen referiert, als man mit Begriffen
wie ‚Daseinsvorsorge‘ und ‚öffentliche Güter‘ in den
Blick nimmt. Mit der fehlenden
Präzision und Eindeutigkeit würde man besser
klarkommen, wenn sie im Konzept
genauer reflektiert würde. Dazu wäre es hilfreich,
man wüsste auf einer abstrakteren
Ebene für alle referierten Güter und
Dienstleistungen, wieso und in welcher Hinsicht
sie über alle Einkommen hinweg als
unverzichtbar gelten.

 

Umbau der Fundamentalökonomie

In den frühen 1980er Jahren ging der Staat immer destruktiver vor und es kam zu Privatisierung, Auslagerung und Kürzungen der Leistungen. Foto: Charles Forerunner on Unsplash.

Nicht nur in Großbritannien hatte der Staat „in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine konstruktive Rolle beim Aufbau des providentiellen und bei der Verstaatlichung des materiellen Sektors gespielt“ (89). Ab den frühen achtziger Jahren wurde der Staat „zu einem destruktiven Faktor und ging zu einer Politik der Privatisierung, Auslagerung und der Kürzungen von Leistungen über“ (ebd.). Dass in diesem Feld intermediäre Einrichtungen und gemeinnützige Einrichtungen fehlten, war – so das Kollektiv mit Fokus auf Großbritannien – eine Voraussetzung dafür, dass der Staat zunächst die Fundamentalökonomie in seine Obhut genommen und ausgebaut hat. Es hat dann aber Jahrzehnte später auch ermöglicht, dass der Staat Leistungen privatisieren und outsourcen und dadurch die Fundamentalökonomie
schwächen konnte, ohne dabei auf politischen Widerstand zu stoßen. Für die Zeit ab den frühen 1980er Jahren wird in dem Buch zwar auch von der „Zertrümmerung der Fundamente“ (91) oder der „Zerschlagung der Fundamentalkökonomie“ (92) gesprochen, tatsächlich wird aber nicht ein Ende der Fundamentalökonomie, sondern deren  Wandel – und genauer: ein „im Geiste des Financial Engineering betriebener  Umbau der Fundamentalökonomie“ (ebd., Herv. eingefügt) – diagnostiziert.

Durch Privatisierung und durch Outsourcing lieferte der Staat – nicht nur in Großbritannien – die Fundamentalökonomie den Unternehmen und Investoren aus, die den Erfordernissen des Finanzmarktes genügen und die in dieser Zeit hohen Renditeerwartungen erfüllen müssen. Sie „können sich nicht [..] mit einer Kapitalrendite von fünf Prozent zufriedengeben, die für Aktionäre von Eisenbahngesellschaften und Besitzer von Staatsanleihen Ende des 19. Jahrhunderts die Norm darstellten, als die materielle Infrastruktur der Fundamentalökonomie errichtet wurde“ (94f.). Mit ihren Aktivitäten in der Fundamentalökonomie zielen sie auf deutlich höhere Renditen, verfolgen dazu Geschäftsmodelle der „Ausbeutung und Extraktion“ (96) und wirken dadurch auf die Fundamentalökonomien destruktiv. Schädlich erweist sich etwa der „Kapitalstreik“, da bei den hohen Renditeerwartungen notwendige Investitionen insbesondere im Bereich der materiellen Fundamentalökonomie unterlassen wurden. Wegen der Kurzfristlogik dieser Geschäftsmodelle bleiben langfristige Innovationen aus, wodurch die Entwicklung in den Fundamentalökonomien von den gesellschaftlichen Entwicklungen und vom technischen Wandel abgekoppelt wurden. Weil die Unternehmen gegenüber den Territorien und der dort lebenden Bevölkerung prinzipiell illoyal sind, wird bei der Herstellung der fundamentalen Güter und Dienstleistungen auf die Bedarfe „vor Ort“ keine Rücksicht genommen. Schließlich sehen die Geschäftsmodelle eine stärkere Ausbeutung der Beschäftigten vor – und dies vor allem in den arbeitsintensiven Bereichen der Fundamentalökonomie, in denen die Qualität der hergestellten Güter und Dienstleistungen maßgeblich an den sie erstellenden Beschäftigten hängt.

Das Konzept der Fundamentalökonomie wird in dem Buch ein wenig durch die sich durchziehende Empörung über die „Zerstörungen“ oder durch die inflationäre Nutzung von evaluativen Adjektiven und Präfixen belastet. Davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Das Konzept ist gerade stark darin, dass der damit in Aussicht genommene Teil der Volkswirtschaft auch über die „beklagten“ politischen Veränderungen hinweg „bestehen“ bleibt und dass er deshalb über diese Veränderungen hinweg als der besondere Teil der Volkswirtschaft im Blick bleiben kann. So kann untersucht werden, wie sich die strukturellen Veränderungen auf die Her- und Bereitstellung konstitutiver Güter und Dienstleistungen auswirken. Darüber, dass so destruktive Wirkungen „dingfest“ gemacht werden, lassen sich – durch Negation der Negationen – politisch-ökonomische Merkmale einer angemessenen Her- und Bereitstellung konstitutiver Güter und Dienstleistungen aufklären.

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