Die Rechtslage – Auf welche Grenzwerte, Normen und Urteile können sich Anwohner und Betroffene berufen?

Juristische Hintergründe zur Luftreinhaltung

Liebe Leserinnen und Leser, zunächst muss ich Sie enttäuschen. Aus jahrzehntelanger Tätigkeit weiß ich, dass von uns Juristen in der Regel Übermenschliches erwartet wird. Dass nämlich alles eindeutig geregelt ist und Recht und Gesetz immer durchgesetzt werden. Aber ein Sprichwort sagt schon: Recht zu haben ist nicht gleich Recht zu bekommen. Beim Thema meines Beitrags geht es um die Rechtslage zu unerwünschten Luftbestandteilen, also Verunreinigungen. Am wichtigsten ist dabei der Feinstaub, unterteilt in PM10 und PM2,5 nach der Größe der Partikel. Nicht weniger bekannt ist das Gas Stickstoffdioxid NO2. Weiter sind noch wichtig Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxid, Blei, Benzol und Kohlenmonoxid. Maßgebliche Größe für die gesetzlichen Regelungen sind die Konzentrationen in der Menge von 1 m³ Luft. Die entsprechende Maßeinheit ist dann Mikrogramm = μg/Kubikmeter Luft, was einem Tausendstel Milligramm entspricht. Dass der Gesetzgeber dringend etwas tun musste, zeigt sich zum Beispiel in der Erhebung der WHO, wonach im Jahr 2013 allein als Folge des Feinstaubs in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung um 10,2 Monate verkürzt wurde. Die Rechtsgrundlage für die Bekämpfung der Luftverschmutzung findet sich im europäischen Recht. Konkret geht es um die Richtlinie 2008/50/EU vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa. Es gab jedoch schon zuvor Richtlinien. Für bestimmte weitere Luftschadstoffe, zum Beispiel für aromatische Kohlenwasserstoffe, gibt es separate Richtlinien.

Die genannte Richtlinie von 2008 legt gesetzlich fest:

  1. die zulässigen maximalen Konzentrationen, genannt Grenzwerte
  2. die zulässige Dauer der Einwirkung dieser Konzentrationen
  3. den 1.1.2010 als zeitlichen Beginn der anzuwendenden Grenzwerte
  4. die Messvorschriften, nämlich Standorte und erfasste Gebiete, Zahl der Messstellen, Anforderungen an die Messgeräte.
  5. erforderliche Reaktionen bei Überschreitungen der maximalen Werte: Die Mitgliedstaaten haben dafür zu sorgen, dass Luftqualitätspläne aufgestellt werden. Es gibt Pflichten zur Meldung an die Kommission. Bei Überschreitungen enthalten die Luftqualitätspläne geeignete Maßnahmen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich gehalten werden kann.
  1. müssen die Messergebnisse veröffentlicht werden.

Damit europäische Regelungen anzuwenden sind, müssen sie in nationales Recht umgesetzt werden. Dies ist erfolgt durch das Bundes-Immissions-Schutz-Gesetz (BImSchG) und die 39. Bundes-Immissions-Schutz-Verordnung (39. BImSchV).

Das Bundesverwaltungsgericht fasste in seinem Urteil vom 27.02.2018 zum Dieselfahrverbot in Stuttgart die Rechtslage zu Stickstoffdioxid (NO2) wie folgt zusammen:

„Nach den zitierten Regelungen beträgt zum Schutz der menschlichen Gesundheit der über eine volle Stunde gemittelte Immissionsgrenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) 200 μg/m³ bei 18 zugelassenen Überschreitungen im Kalenderjahr. Der über ein Kalenderjahr gemittelte Immissionsgrenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) zum Schutz der menschlichen Gesundheit beträgt 40 μg/m³.“

Für Feinstaub (Partikel PM10) gelten schon seit 2005 folgende Grenzwerte:

Jahresmittelwert: 40 μg/m³, Tagesmittelwert: 50 μg/m³ bei maximal 35 Überschreitungen je Kalenderjahr.

Für Feinst-Staub (PM2,5) ist seit 2015 der Grenzwert für den Jahresmittelwert: 25 μg/m³.

Diese Grenzwerte gelten immer, also nicht nur bei Feinstaub-Alarm. Jedoch bestand die rechtliche Verpflichtung zur Luftreinhaltung schon viel früher. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart spätestens seit September 2002.

An dieser Stelle möchte ich kurz darauf hinweisen, dass sich das untergeordnete Recht, hier also das deutsche, immer nach dem höherrangigen, hier also dem europäischen Recht, zu richten hat. Bei Divergenzen gilt EU-Recht. Das hat Auswirkungen auf die Auslegung der deutschen Regelungen. Ganz aktuell möchte ich auf die gestrige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zu verbotenen Abschaltvorrichtungen hinweisen.

Und weil Deutschland seine Verpflichtungen aus diesem europäischen Recht nicht ordentlich erfüllt, nämlich viel zu wenig für die Luftreinhaltung tut, obwohl es dazu 15 Jahre Zeit gehabt hätte, läuft schon seit Jahren ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland.

Das beste Recht nützt nämlich nichts, wenn es nicht durchgesetzt werden kann. Das gilt insbesondere, wenn Anwohner und Betroffene in ihren Rechten verletzt werden. Um diese Rechte auf Luftreinhaltung durchsetzen zu können, ist es äußerst wichtig, sich die nötigen Informationen zu schaffen. Deshalb will ich nur ganz kurz auf die tollen Möglichkeiten des Umweltinformationsgesetzes, in Baden-Württemberg Umweltverwaltungsgesetz, hinweisen. Wenn es um Umweltinformationen geht, hat Jede und Jeder das Recht auf Einsichtnahme in Behördenakten. In der Regel finden sich dort viele Unterlagen. Es wäre wünschenswert, dass von diesen Möglichkeiten viel mehr Gebrauch gemacht werden würde.

Über diesen Beitrag:

Verfasst von Dieter Reicherter, Richter und Staatsanwalt a. D.

Dieser Blogbetrag basiert auf dem Vortrag  von Dieter Reicherter beim Workshop „Dreck, Staub, Gestank?! Nein Danke! Kommunale Konflikte um saubere Luft“ vom 18.12.2020 organisiert von der Evangelischen Akademie Bad Boll zusammen mit dem GROEG-Forschungsprojekt der Universität Tübingen.

Veröffentlicht am 01. Februar 2021

 

Studien und Berichte aus diesem Beitrag:

Richtlinie 2008/50/EU vom 21. Mai 2008

Bundes-Immissions-Schutz-Gesetz (BImSchG)

39. Bundes-Immissions-Schutz-Verordnung (39. BImSchV)

Urteil vom 27.02.2018 -VerwG 7 C 30.17: Verkehrsverbot (u.a.) für Dieselfahrzeuge in der Umweltzone Stuttgart

VG Stuttgart Urteil vom 26.7.2017, 13 K 5412/15: Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit von Verkehrsbeschränkungen; hier: Umweltzone Stuttgart

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 14.5.2020, 10 S 461/20: Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Leistungsurteils – Vollstreckung der Verpflichtung zur Umsetzung des Luftreinhalteplans

Pressemitteilungen zur Luftreinhaltung des Verwaltungsgerichts Stuttgart

 

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Wenn man dann die nötigen Informationen hat und meint, wegen Nichteinhaltung der Grenzwerte in seinem Recht auf saubere Luft verletzt zu sein, muss man zur Durchsetzung dieser Rechte als Erstes klagebefugt sein. Nach deutschem Recht ist man das nur, wenn man in seinen sogenannten subjektiven Rechten verletzt ist. Man muss also ganz konkret betroffen sein, was oft nicht nachgewiesen werden kann. Zum Beispiel gibt es die bekannte Messanlage am Stuttgarter Neckartor. Menschen, die am Neckartor wohnen und anhand der Daten der Messanlage die Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Werte nachweisen können, wurden als Klageberechtigte anerkannt mit schöner Begründung:

„Schutz der menschlichen Gesundheit im Allgemeinen ohne effektiven, einklagbaren Schutz der Gesundheit Einzelner im Besonderen wäre ein Widerspruch in sich.“

Dies gilt aber schon nicht für Menschen im benachbarten Kernerviertel, denn dort gibt es keine Messanlage und theoretisch könnten die Werte dort besser sein.

Auch Umweltverbände können stellvertretend für Bürger auf Einhaltung der Luftqualitätsrichtlinie auf Basis des Umweltrechtsbehelfsgesetzes klagen. Dies betreibt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) systematisch für Stuttgart und für ca. 40 weitere Städte seit 2015. Ist die Klagebefugnis klar, geht der Ärger erst richtig los. Denn ein Gericht kann die Verwaltungsbehörde nur zum Ergreifen von Maßnahmen verpflichten, diese Maßnahmen aber nicht selbst festsetzen. Ziel einer Klage kann also nur sein, die zuständige Behörde zur Erstellung eines wirksamen Luftreinhalteplanes zu verpflichten. Dessen Maßnahmen müssen kurzfristig und spürbar wirken. Unverbindliche politische Absichtserklärungen reichen nicht. Die Maßnahmen müssen auch verhältnismäßig sein.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart erörtert in seinem Urteil vom 26.7.2017, was Sinn und Zweck eines Luftreinhalteplans ist:

Die zuständige Behörde hat einen Luftreinhalteplan aufzustellen, wenn die Immissionsgrenzwerte einschließlich festgelegter Toleranzmargen überschritten werden. Dieser Luftreinhalteplan muss die erforderlichen Maßnahmen zur dauerhaften Verminderung von Luftverunreinigungen festlegen und den Anforderungen der Rechtsverordnung entsprechen. Die Schadstoffbelastung der Luft soll im Interesse eines effektiven Gesundheitsschutzes möglichst schnell auf das durch die Immissionsgrenzwerte festgelegte zumutbare Ausmaß zurückgeführt werden. Nötig ist ein Gesamtkonzept von grundsätzlich geeigneten Maßnahmen. Deren Wirksamkeit ist prognostisch zu quantifizieren. Danach ist zu prüfen und auszuwählen, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um zu einer schnellstmöglichen Einhaltung der verbindlichen Grenzwerte zu gelangen.

Dazu meinte das Bundesverwaltungsgericht am 27.2.2018:

„Die Anordnung eines Verkehrsverbotes muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Mithin ist ein Verkehrsverbot zeitlich gestaffelt nach dem Alter und Abgasverhalten der betroffenen Fahrzeuge und unter Einschluss von Ausnahmeregelungen einzuführen.“

Und das Verwaltungsgericht Stuttgart ergänzend:

„Es muss abgewogen werden zwischen dem Recht auf Leben und Gesundheit und dem Recht auf Verkehrsteilnahme.“

Dazu der Hinweis, dass man auch anders urteilen könnte, wenn es um den Schutz der hohen Güter Leben und Gesundheit geht. In der aktuellen Pandemie sehen wir deutlich, dass man Abwägungen anders und Maßnahmen sehr schnell treffen kann.

Soweit ein kurzer Ausflug in ein juristisches Land der unbeschränkten Möglichkeiten. Denn wenn ein Gericht, natürlich mit sachverständiger Beratung, zum Ergebnis kommt, bestehende Luftreinhaltepläne seien ungeeignet, die Einhaltung der Grenzwerte zu erzwingen, kann es die Behörde nur zu Änderungen verpflichten, aber nicht konkrete Maßnahmen anordnen. Wenn als Folge des Urteils die Behörde den Plan geändert oder einen neuen erstellt hat, geht garantiert der Streit los, ob der neue Plan die gerichtliche Entscheidung erfüllt, die enthaltenen Maßnahmen also geeignet sind.

Und da ist ein weites Feld für Ausflüchte der Behörden, warum notwendige Maßnahmen nicht angeordnet werden konnten, zum Beispiel, weil nach dem Bundes-Immissions-Schutz-Gesetz keine generellen Verkehrsverbote zulässig seien. Nach EU-Recht sind sie aber zulässig. Beliebt ist auch der Hinweis, es gebe keine geeigneten Verkehrsschilder.

In der Regel läuft es dann so, dass dem Kläger, der erfolgreich ein Urteil erstritten hatte, der Geduldsfaden reißt und er die Festsetzung von Zwangsgeld gegen den Beklagten beantragt. Dann muss das Gericht erst einmal entscheiden, ob sein Urteil mit den von der Behörde angeordneten Maßnahmen erfüllt wurde oder nicht. Falls nein, wird zunächst ein Zwangsgeld für den Fall angedroht, dass nicht nachgebessert wird. Erst nach fruchtlosem Ablauf der gesetzten Frist geht es um die Verhängung des Zwangsgelds. In allen diesen Verfahrensstufen der sogenannten Zwangsvollstreckung kann man wunderbare Einwände vorbringen. Übrigens beträgt die Gerichtsgebühr für solche Entscheidungen 20 €. Wenn das alles nichts nützt, kann der Beklagte am Schluss noch eine sogenannte Vollstreckungsgegenklage erheben, weil aus nachträglich eingetretenen Gründen die Erfüllung des ursprünglichen Urteils nicht mehr möglich sei.

Diese Verfahren zur Vollstreckung von rechtskräftigen Urteilen bieten beeindruckende Möglichkeiten, den Lauf der Gerechtigkeit aufzuhalten. Zum Beispiel hat die Landeshauptstadt Stuttgart geltend gemacht, die nötigen Maßnahmen zur Luftreinhaltung stellten einen Eingriff in ihr Selbstverwaltungsrecht dar und der Wirtschaftsstandort werde dadurch beeinträchtigt. Wie auch immer, derartige Verfahren dauern sehr lange und sind letztlich nahezu wirkungslos. Denn wenn endlich ein Zwangsgeld festgesetzt wird, ist der Höchstbetrag 25.000 €, welche nach den einschlägigen Vorschriften an die Staatskasse zu entrichten sind. Das ist natürlich äußerst sinnvoll, wenn genau diese Staatskasse mit einer Hand das Zwangsgeld bezahlt und es mit der anderen kassiert. In kreativer Rechtsfortbildung hat das Gericht zuletzt entschieden, wegen dieser widersinnigen Regelung habe das Land Baden-Württemberg das Zwangsgeld nicht an sich selbst zu bezahlen, sondern an eine gemeinnützige Einrichtung. Aber natürlich bewirkt auch dieser Kleckerlesbetrag keine Verhaltensänderung des Landes.

Zuletzt hatte der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim am 14.5.2020 auf Antrag der Deutschen Umwelthilfe zu entscheiden, ob wegen der Fruchtlosigkeit der Verhängung von Zwangsgeldern gegen den Verantwortlichen für das behördliche Versagen Zwangshaft anzuordnen sei. Als Verantwortlicher wurde Ministerpräsident Winfried Kretschmann ausgemacht. Eine derartige Rechtsfolge ist im Gesetz nicht vorgesehen, wäre aber auch eine kreative Rechtsfortbildung. Die Ausführungen des Gerichts, warum dies nicht angemessen sei, sind lesenswert. Erschreckend ist allerdings der Hinweis in der Entscheidung, der zuständige Regierungspräsident sei vom übergeordneten Ministerium aufgrund einer Entscheidung des Koalitionsausschusses zur Nichterfüllung des gerichtlichen Urteils angewiesen worden. Er habe erfolglos dagegen remonstriert.

Abschließend möchte ich zur missglückten Durchsetzung der Luftreinhaltung in Stuttgart kommen. Nur wer nicht zu Depressionen neigt, sollte sich die vom Verwaltungsgericht Stuttgart veröffentlichte Übersicht über die entsprechenden Verfahren zu Gemüte führen:

Die Auflistung und Besprechung der einzelnen Gerichtsverfahren zur Luftreinhaltung in Stuttgart erspare ich Ihnen und mir. Nur soviel: Bereits am 31.5.2005 ordnete das Verwaltungsgericht Stuttgart auf die Klage von Anwohnern erstmals einen immissionsschutzrechtlichen Aktionsplan an. Die weiteren Gerichtsverfahren wurden nahezu jährlich durchgeführt und endeten fast immer mit Verurteilungen des Landes und Zwangsgeldfestsetzungen, ohne dass bis heute die Werte eingehalten werden.

Aber lesen Sie selbst.

Zur Erinnerung: Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts wurde der zulässige Grenzwert für NO2 im Jahr 2013 an allen Messstationen in Stuttgart um das Doppelte überschritten. Dazu ist auch zu bemerken, dass an vielen Stellen überhaupt nicht gemessen wird, sodass die Dimension der Verschmutzung gar nicht geklärt ist.

Mein Fazit zum Schluss ist naturgemäß subjektiv. Dennoch will ich es so drastisch ausdrücken, wie ich es als Jurist und Bürger empfinde. Für mich ist offensichtlich, dass sich das Land Baden-Württemberg bewusst nicht an Recht und Gesetz hält und gerichtliche Entscheidungen missachtet. Meine größte Sorge gilt neben Leben und Gesundheit der betroffenen Menschen vor allem den dadurch ausgelösten Gefahren für unseren Rechtsstaat. Auf Dauer kann ein Staat von seinen Bürgerinnen und Bürgern die Einhaltung der Gesetze nicht erwarten, wenn er sich selbst um diese nicht kümmert.

Und deshalb nützen Ihnen die besten juristischen Ratschläge für etwaige Verfahren herzlich wenig. Um mit Benjamin Blümchen zu sprechen: „Trübe Aussichten“.

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