„Sie sehen ein Problembewusstsein aber Ratlosigkeit meinerseits.“

Die vorliegenden Interviewpassagen entstammen einem Gespräch mit einem niedergelassenen Allgemeinmediziner, der in der Landesärztekammer und im Hausärzteverband engagiert ist. Der Mediziner illustriert zunächst die Versorgungslage und reflektiert ihre po-litisch-diskursive Einordnung, bevor er einige Einblicke in seinen Versorgungsalltag gibt. Im Anschluss werden die Rationalitäten der beteiligten Akteure und ihr (Nicht-)Handeln mit Blick auf bestehende und drohende Versorgungsmängel eingeordnet. Paradigmatisch für ähnliche Gespräche verweist der Interviewte auf die strukturelle Komponente der Fehlsteuerung und beklagt die Beharrungskräfte und den starren Charakter des dominierenden Akteursarrangements.

Inwiefern beschäftigen sich eine Landesärztekammer und ein Hausärzteverband mit der vertrags-ärztlichen Versorgung?

Ich bin damit im Rahmen der Ärztekammer eigentlich nicht betraut. Das ist Ihnen wahrscheinlich bewusst, dass die KV, also die Kassenärztliche Vereinigung, ja den Sicherstellungsauftrag und damit auch den Auftrag hat, das Thema institutionell zu lösen. Von der Ärztekammer aus sind wir natürlich insofern bemüht, als wir mit den Weiterbildungskollegen zu tun haben, da die Abläufe möglichst klar zu gestalten. Das ist uns auch ganz gut gelungen, dass die jetzt nicht noch lange in der Luft hängen, sondern zügig zu den Facharztprüfungen zugelassen werden und dann auch in die Versorgung selbstständig entlassen werden. Aber mehr haben wir von der Kammer aus nicht damit zu tun. Ist ja auch nicht unser Auftrag. Also die Kammer ist nicht zuständig für das Thema. Nur insofern, als wir mit der Weiterbildung natürlich zu tun haben und als Ärztevertretung natürlich auch mit dem Thema befasst sind. Aber nur mittelbar.

Im Hausärzteverband ist das tatsächlich ist ein allgegenwärtiges Thema. […] Ich weiß, dass die Kollegen ein Thema haben, Nachbesetzungen zu finden. Woher weiß ich das? Aus persönlichen Gesprächen. Aus der Qualitätszirkelgruppe raus, weiß ich das nur moderat. Ich hatte gerade eine Hospitantin in der Praxis, die […] eine Praxis übernommen hat, im Moment noch gleitend, da der Eigentümer noch da ist. Da sind andere Versorgungsrealitäten, als das bei uns [Anm. d. A. in der Stadt] der Fall ist.

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Verfasst von Andrea Futterer
Veröffentlicht am 19.07.2022

Sie finden die aufbereiteten Interviewpassagen auch in einem herunterladbaren PDF im Bereich „Materialien und Publikationen

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In Ihrem Bundesland hat sich der mediale Diskurs und die politische Bearbeitung lange auf Fragen der Aus- und Weiterbildung fokussiert. Die Niederlassungspraxis der zuständigen Akteure und alternative Versorgungsformen spielen eine untergeordnete Rolle. Wie nehmen Sie das Engagement unterschiedlicher Akteure wahr?

Sie fragen, warum die KV hier nicht Strukturen und Verfahren ausprobiert, um nachzubesetzen bzw. zusätzlich zu besetzen? […] Es gibt durchaus Initiativen. Sie wissen, dass es dieses intersektorale Konzept gibt. Das war aber nichts, was unser hausärztlicher Kollege nach vorne gebracht hat. […] Da ist nicht so viel Gestaltungswille da. Es gibt durchaus einen Gestaltungswillen, aber dieses Nachbesetzungsthema wird relativ unterschwellig behandelt. Das muss ich zugeben. Ich kenne keinen strukturellen Grund und vermute, dass es auch und zentral daran liegt, dass der hausärztliche Kollege im Vorstand nicht besonders einflussreich ist und sich fortwiegend mit der […] Bereitschaftsdienstorganisation beschäftigt, wo er irgendwie einigermaßen im Sattel sitzt.

Im Moment sind die Patienten versorgt. Es gibt solche Spielchen, dass durchgerechnet worden ist – auch auf die kleinere regionale Ebene – wie lange braucht es denn, bis der [Bürger] bei seinem nächsten Hausarzt ankommt und da wird ausgerechnet, dass 99 Prozent innerhalb von 15 Minuten beim nächstgelegenen Hausarzt sind. Das heißt, inhaltlich gibt es das Problem, aber formal ist es nicht so drängend, dass man sich darum kümmern muss. Das ist der Eindruck, den ich habe.

Mit Blick auf die Altersstruktur wird sich die Lage verändern. Wo spitzt sich die Problematik denn aktuell zu und wie wird damit umgegangen?

Natürlich! Das ist das gleich hier. Ein Drittel aller Kollegen ist über 60. Es könnten sogar noch mehr sein. Also es ist natürlich ein massives Problem, ja. Auf das steuern wir zu, klar.

Also ich weiß, dass die Kommunen da durchaus aktiv sind. Die bieten Grundstücke und Mietverträge und sonstiges an und machen richtig Werbung […]. Das ist aber jetzt nicht so ein Riesenthema. Sie wissen, dass es auch so eine Landarztpraxis-Geschichte hier […] gibt. Es gibt [… eine private] Uni. Die haben eigentlich das Bekenntnis zur Primärversorgung. Ob das tatsächlich so gelingt, wage ich zu bezweifeln. Aus meinen Erfahrungen ist das nicht so. Und die politische Ebene, das heißt die Landesregierung hat [mit] der ärztlichen Selbstverwaltung kein ganz großes Thema. Da gucken alle zu und sagen, wir haben zu wenig Ausbildung. Das ist auch so. Wir [machen] Fachsprachkundeprüfungen mit den ausländischen Kolleginnen und Kollegen, weil wir Zuwanderung haben. […] Es hat sich […] durchgesetzt, dass die Kollegen und Kolleginnen durchschnittlich weniger Wochenarbeitszeit verbringen. Das heißt: Es ist nicht damit getan, dass die Kollegen da sind, sondern sie müssen auch entsprechend Arbeitszeit einbringen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit alternativen Versorgungsformen?

Ich bin selbst relativ aktiv darin, Medizinische Fachangestellte (MFAs) zu qualifizieren. Ich bin ein großer Fan der Delegation. Das ist aber [hier] nicht so sehr weit verbreitet [lacht]. […] Also dieses Delegationsmodell wäre durchaus ausbaufähig und sicher zukunftsweisend. Wenn Sie mich jetzt nach Telemedizin fragen […], das ist – wie soll ich sagen – nicht sehr weit verbreitet und aus meiner hausärztlichen Sicht auch nicht wirklich sehr hilfreich. Diejenigen, die ich da anwenden müsste, sind ja meistens betagte Leute, die Schwierigkeiten haben mit den Gadgets. Da kommt dazu, dass in den unterversorgten Gebieten eben zum Teil auch wirklich die Infrastruktur nicht da ist, um irgendwie noch Bildübertragung hinzukriegen. Und die Omi kann’s nicht. Wenn der Enkel nicht da ist, findet das nicht statt. Das ist für uns nicht wirklich relevant.

Die jüngeren Kollegen sind dem gegenüber aufgeschlossener, weil sie viel mehr gewohnt sind in Teams zu arbeiten und aus der Krankenhaussituation her gewohnt sind, als Teams von Ungleichwertigen aber Zusammenarbeitenden zu arbeiten. Ich glaube, es ist ein kulturelles Problem. Es ist eine Schwierigkeit, den kompletten Durchblick aus der Hand zu geben. Es ist kein institutionelles, sondern eher ein persönliches Problem, Aufgaben zu delegieren.

Im Rahmen der lokalen Mediendiskurse positionieren sich zunehmend politische Akteure zu den Fragen der Versorgungsorganisation und unterschiedlicher Versorgungsformen. Ist Gesundheitsversorgung eine öffentliche Aufgabe?

Natürlich ist Gesundheitsversorgung ein zentrales Daseinskonzept. Das heißt, es ist erst-mal eine öffentlich-politische Aufgabe. Aber die Institution, die dafür zuständig ist, ist natürlich dann innerhalb der Ärzteschaft primär die KV. Aber auch die Kammer fühlt sich natürlich am Ende zuständig. […] Tatsächlich glaube ich, ist das eine Ebene, die wir innerhalb der Selbstversorgung nicht wirklich getan bekommen. Weil wir dann doch einfach ein Stück weit befangen sind und den Kollegen da nicht irgendwelche mehr oder weniger deutlichen Zwangsmaßnahmen vorschlagen können.

Sie haben einen bekennenden Hausarzt vor sich sitzen. Was ich mir wünschen würde, ist einfach mal ein Bekenntnis zu einer primärärztlichen Versorgung. Das würde enorme Res-sourcen frei machen in unserem Gesundheitssystem. […] Das würde niemals aus der
Ärzteschaft kommen, weil, das wissen Sie: 25 Prozent der niedergelassenen Ärzte sind Allgemeinärzte beziehungsweise hausärztlich tätige Internisten. Die anderen werden das nicht wollen. […] Das wäre eine klar politische Aufgabe und das würde sehr viele Probleme lösen. […] Sie sehen ein Problembewusstsein aber Ratlosigkeit meinerseits. […] Es einfach so, dass wir in einer ärztlichen Selbstorganisation Mehrheiten gewinnen müssen. […] Im Zweifel gibt es da schon eine Front zwischen Gebietsärzten und Hausärzten. […] Das Geld ist bei niemandem ein Problem. […] Wer das nicht hat, der kapiert nicht, wie es geht. Um Geld geht es nicht. Es geht um Lebenszufriedenheit, um Versorgungssicherheit und um Versorgungsqualität und da gibt es durchaus Themen – in allen Bereichen.

In der KV sieht es nicht besser aus. Wir arbeiten alle an dem „Was können wir tun, um irgendwie als das wahrgenommen zu werden, was wir luxuriöser Weise sind?“: eine Selbstorganisation. Unsere Bedürfnisse zu artikulieren und dann auch zu exekutieren? Schwer möglich. Es gibt einen Aufgabenkanon, den jetzt besonders die KV einfach hat, das ist eben der Sicherstellungsauftrag. Immer wieder gibt es heiße Diskussionen darum, was alles Sicherstellung ist.

Wohin geht es mit der Selbstverwaltung?

[lacht] Soll ich Ihnen mal was sagen? Ich habe kein Problem damit, mich beim Staat an-stellen zu lassen. Also ich habe das Geld verdient, das ich verdienen wollte. Mir ist das egal. Die Kollegen wollen alle ihre Privilegien nicht aufgeben. Das sind Privilegien, die wir genießen. Aber ich sehe nicht, wie wir das verteidigen wollen. Wir sind ein zahnloser Tiger. […] Sie brauchen nicht zu glauben, dass das mehrheitsfähig ist, was ich hier sage. Aber denken tun das viele, sagen tun das wenige.

Gut es war klar, dass es in einer Ampelkoalition keine Bürgerversicherung geben kann, weil die FDP da nicht mitspielt. Aber ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dass es die geben würde und dass man auf diesem Weg einfach alle Strukturen und alle Dinge auf den Prüf-stand stellt. Da gibt es viel. Wir Hausärzte, wir haben Leitlinien entwickelt gegen Unter- und Überversorgung. Es gibt beides nebeneinanderher. Wenn ich sehe, wieviel Unsinn ich im Laufe eines Tages machen soll und mich ständig dagegenstelle. […] Das sind Probleme, wo ich mich frage: Was machen wir hier? Aber so ist die Versorgungsrealität. Ich bin mir sicher, das braucht einfach eine externe Zwangssituation und ich persönlich warte schon lange drauf, dass der wirtschaftliche Druck so hoch ist, dass wir es vorgegeben bekommen. Ganz einfach. […] Wenn ich wirklich hausärztlich tätig sein könnte, fände ich das super. Jetzt bin ich ein Suppenkasper.

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