Kommunen als Akteure in der ambulanten ärztlichen Versorgung

Im neuen Arbeitspapier des Projektes werden Kommunen als Gewährleistungsakteure in der ambulanten ärztlichen Versorgung in den Blick genommen. Das lange beliebte und romantisierte Bild des Landarztes mit Einzelkämpferdasein hat für viele Medizinstudierende als Berufsziel an Attraktivität verloren. Dieser Wandel stellt die Versorgungslage in Deutschland zunehmend vor Probleme (Rosenbrock & Gerlinger 2014: 442f). In manchen besonders attraktiven Bereichen und Regionen besteht eine Überversorgung, anderen droht dagegen eine Unterversorgung. Besonders städtische Gebiete sowie der fachärztliche Bereich werden von vielen Mediziner*innen bevorzugt. Hausärztliche Tätigkeiten werden hingegen häufig als weniger attraktiv wahrgenommen. Dies trifft auch auf nicht-städtische Regionen, besonders strukturschwache und ländliche, zu. Hier droht sich die Situation noch weiter zuzuspitzen. Die Verteilungsproblematik ist also zweifach: Räumlich und innerhalb der Fachrichtungen (Gerlinger 2021: 6). Durch diese Dynamik, so die Argumentation des Arbeitspapiers, kommt immer häufiger auch Kommunen eine kompensatorische Rolle als Akteur in der Gewährleistung von Gesundheitsversorgung zu. Durch ihren Einsatz, besonders in vernetzender und unterstützender Funktion, können sie dazu beitragen, lokale Mängel und Gewährleistungslücken zumindest temporär zu kompensieren.

Über diesen Beitrag:

Verfasst von Jan Ruck
Veröffentlicht am 14. April 2022

Arbeitspapier:

Gewährleisten bis der Arzt kommt:
Eine Untersuchung von Kommunen als Gewährleistungsakteure in der ambulanten ärztlichen Versorgung

Bildquellen:

Unsplash: absolutvision; Alexander Dummer; Alina Grubnyak; Andreas Gucklhorn; Ant Rozetsky; Javier Trueba; Kvalifik; Markus Winkler; Micheile

 

Eine 2018 in Niedersachsen durchgeführte Studie illustriert, dass die Unterstützung ambulanter Gesundheitsversorgung ein Thema für Kommunen ist: Von 411 Bürgermeister*innen, die an der Befragung teilnahmen, gaben 42% an, bereits Unterstützungsmaßnahmen für ambulante Ärzt*innen geleistet zu haben (Kuhn et al 2018: 711). Unterstützungsbedarf sahen 69% der Befragten (ebd.: 714).

Welche Kommunen sind besonders betroffen?

Die Kommunen bewegen sich im Bereich der ärztlichen Versorgung in einem institutionellen Rahmen, der ihnen keine explizite Rolle zuweist. Sie sehen sich jedoch zunehmend mit einem  Handlungs- und Problemdruck, adressiert etwa durch die Bevölkerung und Ärzteschaft, konfrontiert, da regionsspezifische Bedarfe von höheren Ebenen nicht ausreichend gedeckt werden. Nicht zuletzt sind Kommunen auch deshalb unter Zugzwang, da die ärztliche Versorgung einen wichtigen Standortfaktor darstellt. Gewissermaßen werden betroffene Kommunen also durch das partielle Scheitern der eigentlichen gewährleistungsstaatlichen Akteure in unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Gebieten in eine eigene „kompensatorische Gewährleistungsverantwortung“ gedrängt.

Betroffene Kommunen lassen sich charakterisieren als Räume, „die eine kleine Einwohnerzahl aufweisen, sich in ländlichen, strukturschwachen Regionen befinden und deren Versorgungslandschaft von Einzelpraxen mit familienunfreundlichen Arbeitszeitmodellen geprägt ist“ (Kuhn et al. 2018: 712).

 


In welchen Handlungsbereichen können Kommunen aktiv werden?

Kommunen kommen im Feld der ärztlichen Versorgung zwangsläufig mit den anderen dort aktiven Akteuren, etwa den KVen und der Ärzteschaft, in Kontakt. Die KVen spielen als Akteure insbesondere deswegen eine wichtige Rolle, da sie den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung innehaben. Da den Kommunen keine klare Aufgabe zukommt und sie institutionell nicht direkt in der Verantwortung sind, fallen entsprechende Handlungsmöglichkeiten in den Bereich freiwilliger Aufgaben, die Kommunen als Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsgrundsatz in eigener Verantwortung bearbeiten können. Die Handlungsmöglichkeiten wurden im Arbeitspapier aus der Sekundärliteratur zusammengetragen und  empirisch mit Praxisbeispielen aus Sekundärliteratur und Presse illustriert. Im Folgenden werden die acht identifizierten Handlungsbereiche kurz umrissen:

1. Vernetzung, Kooperation und Koordination: In diesem zentralen Bereich, steht der Austausch mit anderen Akteuren der Gesundheitsversorgung im Vordergrund, besonders den KVen und der Ärzteschaft. Wichtig sind allerdings auch Absprachen mit Nachbarkommunen, um die regionale Lage und eine mögliche Zusammenarbeit im Blick zu haben. Der Handlungsbereich kann als eine Art „Katalysator“ verstanden werden, der den Erfolg in anderen Handlungsbereichen durch die Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren wahrscheinlicher macht.

2. Information, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit: Die Öffentlichkeitsarbeit, um interessierte Ärzt*innen und Studierende anzusprechen und deren Beratung kann ein wichtiger Schritt für Kommunen sein. Hier können die Standortvorteile von Kommunen besonders hervorgehoben werden.

3. Infrastrukturelle Rahmenbedingungen und Standortfaktoren: Grundlage für die Attraktivität von Kommunen für Mediziner*innen sind auch die infrastrukturellen Rahmenbedingungen. Gerade der Bereich der Mobilität bietet hier ein zentrales Handlungsfeld.

4. Unterstützungsleistungen im Privatbereich: Die Unterstützung im Privatbereich, etwa bei der Suche einer Wohnmöglichkeit oder einer Einrichtung für Kinderbetreuung kann gerade für Ärzt*innen mit Lebenspartner*innen und Familien hilfreich sein.

5. Unterstützung bei der Niederlassung: Bei der Niederlassung selbst haben Kommunen ebenfalls Möglichkeiten, finanziell und materiell zu unterstützen. Beispiele sind die Bereitstellung von Räumlichkeiten oder die Finanzierung von Praxisausstattung.

6. Förderung von Nachwuchs: Durch die gezielte Förderung von Medizinstudierenden und Ausbildungspraxen können Kommunen die langfristige Versorgung verbessern.

7. Monitoring: Durch ein eigenes Monitoring und den Austausch mit Ärzteschaft und KVen können Kommunen die Lage im Blick behalten und frühzeitig auf mögliche Entwicklungen reagieren.

8. MVZ-Trägerschaft und neue Versorgungsmodelle: Die Trägerschaft eines MVZs zu übernehmen ist für Kommunen seit einiger Zeit möglich. Inzwischen gibt es trotz recht hoher Kosten und größerem Aufwand schon erste Beispiele kommunaler MVZs.

 

Werden Kommunen in den beschriebenen Handlungsbereichen aktiv und setzen darin liegende Handlungsmöglichkeiten um, so werden sie trotz der kompensatorischen Natur ihres Eingreifens zu Gewährleistungsakteuren, da sie ein gemeinwohlrelevantes Steuerungsdefizit erkennen und korrigierend eingreifen.

 


Probleme von Kommunen als Akteure in der ärztlichen Versorgung

Bei der Erfüllung dieser Aufgaben werden Kommunen mit verschiedenen Problemen konfrontiert. In erster Linie erwachsen diese aus fehlenden Zuständigkeiten und Ressourcen. Einerseits sind Kommunen auf dem Papier keineswegs verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, andererseits fehlen ihnen dazu häufig die rechtlichen Kompetenzen, die ihr Eingreifen stützen würden (Greß & Stegmüller 2018: 8). Daraus lässt sich schließen, dass die kommunale Ebene selbst rechtliche Grundlagen und Anreize benötigt, um eine aktivere Rolle zu übernehmen (Einig 2015: 28). Zudem überfordert die wirtschaftliche Lage, etwa die Verschuldung, viele Kommunen schon bei der Erfüllung von Pflichtaufgaben, was das möglicherweise kostspielige freiwillige Eingreifen in die ärztliche Versorgung gar nicht erst erlaubt (Gerlinger et al. 2018: 109f). Dies trifft  in besonderem Maße auf die von Unterversorgung betroffenen und bedrohten Kommunen zu, die meist auch mit anderweitiger Strukturschwäche zu kämpfen haben. Durch unterschiedliche wirtschaftliche Voraussetzungen und die sich öffnende Schere zwischen finanziell besser und schlechter aufgestellten Kommunen (Zabler 2021: 39) kann auch die Ungleichheit der Lebensverhältnisse hinsichtlich ärztlicher Versorgung zunehmen.

Diese Erkenntnisse bestätigen sich auch in der von Kuhn et al. (2018: 714) durchgeführten Befragung: 72% der Bürgermeister*innen gaben bei der Umsetzung kommunaler Unterstützungsmaßnahmen Hindernisse an, 74% davon wegen fehlender Mittel und 73% wegen fehlenden Zuständigkeiten.

 

Hinsichtlich der verschiedenen:  Handlungsmöglichkeiten ergeben sich zudem spezifische Probleme. Hervorzuheben ist für den Bereich der „Vernetzung, Kooperation und Koordination“, eine fehlende Kooperationsbereitschaft anderer Akteure, da Kommunen durch ihre fehlende Zuständigkeit auf die Reformfreudigkeit anderer Akteure angewiesen sind. Zudem können nicht abgesprochene Maßnahmen unter Nachbarkommunen zu einem der Gesamtsituation schädlichen Wettbewerb führen. Zudem besteht durch die allgemeine Strukturschwäche vieler mit dem Problem drohender Unterversorgung konfrontierter Kommunen eine Art Teufelskreis: Die geringe Siedlungsdichte, Überalterung und Abwanderung im ländlich-peripheren Raum (Junkernheinrich 2019: 38) machen Investitionen schwierig, wodurch wiederum die Attraktivität für Ärzt*innen sinkt, deren Wegbleiben somit die Strukturschwäche weiter verschärft. Gerade der Bereich der Mobilität und besonders der ÖPNV ist hier zu nennen, der für die Attraktivität der Kommune und Gewährleistung der Gesundheitsversorgung der Patient*innen zentral ist. Bekanntermaßen steht dieser im ländlichen Raum jedoch oftmals vor eigenen großen Herausforderungen (Einig 2015: 63f).


Das Eingreifen von Kommunen: Lösung für den Landarztmangel?

Das freiwillige Engagement von Kommunen in der ärztlichen Versorgung kann zwar lokal dabei helfen, Versorgungsmängel einzudämmen, stellt aber keine Lösung für das Problem des Ärztemangels im ländlichen Raum dar. Kommunen können mit den beschriebenen Handlungsmöglichkeiten nur die Symptome der zu Beginn erläuterten Verteilungsproblematik mildern. Das Setzen von Anreizen und Netzwerkarbeit erhöht zwar die Chance, genügend Ärzt*innen in die Region zu „locken“. Die zugrunde liegende Ursache der Präferenzen der Ärzt*innen gegen strukturschwache Räume und gegen die Allgemeinmedizin als Fachrichtung kann so jedoch nicht behoben werden. Diese Ursachen liegen auf höheren oder anderen Ebenen und müssen dementsprechend dort gelöst werden.

Eine weitere Herausforderung ist, dass angesichts der Verteilungsproblematik nicht nur der Abbau von Unterversorgung, sondern auch der Abbau von Überversorgung wichtig ist. Hier sind Kommunen als Träger von Partikularinteressen (Gerlinger et al. 2018: 120f) ähnlich ungeeignet, wie die KVen, die ebenfalls kaum über Anreize und adäquate Instrumente zur Bekämpfung dieses Problems verfügen (Greß & Stegmüller 2018: 14f)

 

Eine Stärkung kommunaler Kompetenzen in der ambulanten Versorgung verbunden mit entsprechenden Ressourcen erscheint insofern als sinnvoll, als diese als vollwertige Gewährleistungsakteure bei den in Zukunft wohl noch häufiger auftretenden Versorgungsengpassen eindämmend mitwirken könnten. Temporär könnte mehr Ausgleich geschaffen werden, besonders wenn auch weniger finanzkräftigen Kommunen mit Ressourcen gestärkt würden. Eine Möglichkeit hierzu wäre, die Strukturfonds nicht mehr bei den KVen, sondern bei den Kommunen anzusiedeln (Greß & Stegmüller 2018: 14). Eine weitere Möglichkeit wäre auch die Ansiedelung bei den gemeinsamen Landesgremien, die dann weiter verteilen können. Diese Stärkung der Kommunen ist notwendig, da die auf höheren Ebenen ergriffenen Maßnahmen, die das Problem lösen könnten, meist langfristig und nicht kurzfristig wirken. Ein Beispiel hierfür sind die Landarztquoten auf Landesebene. Bis dahin ist die stärkere Einbindung von Kommunen in das Gewährleistungssystem zwar keine finale Lösung, aber eine Möglichkeit zur lokalen Eindämmung des Problems. Kommunen sind dabei durch ihre Problemnähe und eigene, wenn auch freiwillige, Handlungsmöglichkeiten hilfreich. Zu bedenken ist dabei, dass Kommunen für den Aufbau solcher Kompetenzen ebenfalls Zeit und Ressourcen brauchen (Kuhn & Amelung 2015: 23).

Gleichzeitig zeigt die Notwendigkeit kommunalen Eingreifens das (partielle) Scheitern des Gewährleistungssystems und sollte als Warnsignal und Anlass interpretiert werden, diese Defizite auf höheren Ebenen zu beseitigen. Hier zeigt sich eine Überforderung des Staates, der entgegengewirkt werden sollte. Den Überlegungen Christoph Reichards (2003: 5) zum Gewährleistungsstaat folgend, lässt sich konstatieren:  Es bedarf einer generellen Regulierung auf nationaler Ebene (die im Falle des Ärztemangels bislang noch nicht erfolgreich scheint), die kommunale Ebene sollte allerdings zur konkreten Standardsetzung ebenfalls mehr in die ärztliche Versorgung eingebunden werden, um besser auf kurzfristig entstehende Versorgungsmängel reagieren zu können.

Basierend auf: Ruck, Jan (2022): Gewährleisten bis der Arzt kommt. Eine Untersuchung von Kommunen als Gewährleistungsakteure in der ambulanten ärztlichen Versorgung (GROEG-Arbeitspapier Nr. 4).  http://dx.doi.org/10.15496/publikation-67367


Literatur

Einig, Klaus (2015): Anpassungsstrategien zur regionalen Daseinsvorsorge. Empfehlungen der Facharbeitskreise Mobilität, Hausärzte, Altern und Bildung. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Berlin.

Gerlinger, Thomas et al. (2018): Die Kommune als Akteur in der Gesundheitspolitik. In: Brunnett et al. (Hrsg.): Die Kommune als Ort der Gesundheitsproduktion. Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften 52. Argument. Hamburg. S. 103-126.

Gerlinger, Thomas (2021): Vom versäulten zum integrierten Versorgungssystem: Reformbedarf und Handlungsempfehlungen. Working Paper Forschungsförderung Nummer 205 Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf.

Greß, Stefan/Stegmüller, Klaus (2018): Versorgungssteuerung auf kommunaler Ebene. Möglichkeiten und Grenzen. In: Brunnett et al. (Hrsg.): Die Kommune als Ort der Gesundheitsproduktion. Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften 52. Argument. Hamburg. S. 8-21.

Junkernheinrich, Martin (2019): Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die Kommunalfinanzen. In: Wirtschaftsdienst 99. S. 36–43.

Kuhn, Bertolt/Amelung, Volker (2015): Gemeinden unter Druck. Welche Rolle kann die Kommune bei der Lösung von ambulanten ärztlichen Versorgungsproblemen spielen? In: Gesundheits- und Sozialpolitik 69 (6). S. 16-24.

Kuhn, Bertolt et al. (2018): Die Rolle von niedersächsischen Kommunen für die zukünftige ärztliche Versorgung – Eine Befragung der Bürgermeister und Landräte. In: Das Gesundheitswesen 80. S. 711–718.

Reichard, Christoph (2003): Das Konzept des Gewährleistungsstaates. Referat auf der Jahrestagung 2003 des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft.

Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2014): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. Bern.

Zabler, Steffen (2021): Kommunale Schulden in Deutschland. Instrumente zur Bekämpfung auf dem Prüfstand einer synthetischen Analyse. Baden-Baden.

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