Feinstaubdebatte in Stuttgart

Mit der Abschaffung des weit über die Landesgrenzen bekannten Feinstaubalarms in Stuttgart scheint im April 2020 ein Kapitel zu enden.
Die Feinstaubwerte in der Landeshauptstadt pendelten sich nach langer Entwicklung unterhalb der vorgegebenen Grenzwerte ein. Bis zu diesem Ergebnis war es ein weiter Weg, der alle Beteiligten vor zahlreiche Herausforderungen stellte und in der Zukunft eine bedeutende Rolle spielen könnte.

Was ist Feinstaub überhaupt?

Feinstaub im klassischen Sinn bezeichnet alle festen Partikel oder flüssige Tröpfchen in der Luft. Wichtig für die Klassifizierung, das Verständnis der gesetzlichen Vorgaben und wissenschaftlichen Studien ist die Größe der Partikel. Die großen Partikel mit einem Durchmesser von maximal 10mm (PM10) werden von Rachen und Nasenschleimhäuten früh aus dem menschlichen Organismus gefiltert. Partikel der Größenordnung 2,5mm (PM2,5) und ultrafeine Partikel
(≤ 0,1mm) durchbrechen diese Barriere und gelangen über die Lungen in den Blutkreislauf und verursachen Schäden im gesamten Körper. 

Weltweit führt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Tod von über 3 Millionen Menschen im Jahr 2012 mit einer Feinstaubbelastung in Verbindung. Besonders anfällig für durch Feinstaub ausgelöste Krankheiten sind ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen.

Die für Stuttgart relevanten gesetzlichen Vorgaben leiten sich aus der europäischen Richtlinie 2008/50/EG ab. Die Grenzwerte wurden 2002 festgelegt und sind seit 2005 rechtsbindend. Auffallend ist dabei, dass diese deutlich über den Empfehlungen der WHO zur Gewährleistung sauberer Luft liegen. Jedoch sind sich Forscher einig, dass es keinen Grenzwert gibt, unter dem es keine Auswirkungen auf den menschlichen Organismus gibt. Wenn man die strengeren Empfehlungen der WHO auf Europa auslegt, sind viele Regionen von einer gesundheitsschädlichen Luft betroffen.

Stuttgart, die „Autostadt“

Der „Autostadt“ Stuttgart, die Standort namhafter Automobilhersteller und Zulieferer ist, wurde ihr hohes Verkehrsaufkommen, ihre Kessellage und die windarmen Begebenheiten zum Verhängnis. Die Messstation am Neckartor Stuttgart wies die Kreuzung jahrelang als „dreckigste Kreuzung Deutschlands“ aus und zwang die Behörden zum Handeln. Erste Messergebnisse zur Situation in Stuttgart lagen bereits zu Beginn der 2000er Jahre vor. Der breiten Öffentlichkeit wurde das Thema erst durch Medienberichte ab 2012 zugänglich gemacht.  

Über diesen Beitrag:

Verfasst von Franziska Bold

Veröffentlicht am 30. Oktober 2020

Franziska Bold studierte an der Universität Konstanz Politik und Verwaltungswissenschaft. In Ihrer Bachelor-Arbeit mit dem Titel „Die Dynamik des Feinstaubdiskurses – Eine netzwerkanalytische Fallstudie in Stuttgart“ analysierte sie anhand einer Diskursnetzwerkanalyse den Feinstaubdiskurs in Stuttgart. Dieser Blogbeitrag basiert auf ihrer Bachelor-Arbeit.

Bildquellen:

Titelbild Photo by Nikiko

Die Methode der Forschung

Die Medienberichterstattung bildet den Ausgangspunkt für die Verwendung des neuen und innovativen Forschungsansatzes der Diskursnetzwerkanalyse. In der Fallstudie meiner Bachelorarbeit, die Basis dieses Beitrags ist, wurden Zeitungsartikel aus beiden regionalen Zeitungen Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten in einem Untersuchungszeitraum von 01.01.2007-31.12.2019 anhand einer Kombination von relevanten Suchbegriffen ausgewählt. Insgesamt wurden 265 Artikel eingelesen und 1651 Statements manuell nach Akteur, Organisation, Konzept und Zustimmungs-/ Ablehnungsvariablen kodiert. Die Ergebnisse ermöglichen es, rund um die Feinstaubthematik Organisationen und Dynamiken abzubilden und dadurch Akteurskonstellationen zu identifizieren. 

Die Politik reagiert

Abbildung 1 Darstellung mit Visone der Organisationen und Konzepte im Untersuchungszeitraum von 2007-2011 (zum vergrößern klicken)

Die politischen Reaktionen waren nach der Veröffentlichung der ersten Messwerte verhalten. Betrachtet man die Ergebnisse aufgeteilt in drei an den Legislaturperioden der Landesregierung orientierten Untersuchungszeiträumen, sind Fokuspunkte bei Konzepten und Organisationen erkennbar. Im ersten Untersuchungszeitraum von 2007-2011 gruppierten sich die Akteure um die zwei zentralen Konzepte: „(Durch-) Fahrverbot für LKW“ und „Fahrverbot durch eine Umweltplakettenregelung“.

In der Gesamtstruktur gab es zahlreiche Verästelungen, da die Akteure zusätzlich eigene Konzepte vertraten. Die FDP agierte in einer Vermittlerposition zwischen den zwei Konzepten, während sich die Grünen für ein LKW-Fahrverbot einsetzten (siehe Abbildung 1).

 

Abbildung 2 Darstellung der Organisationen und Konzepte im Untersuchungszeitraum 2011-2016 (zum vergrößern klicken)

Die SPD und CDU befürworteten die Plakettenregelung. Die CDU teilte demnach zentrale Ansichten mit der Oppositionspartei SPD. Ebenfalls zentral war die Problematik anderer Luftschadstoffe. Diese Argumentation wurde vom Amt für Umweltschutz Stuttgart und vom Landesministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr geteilt. Es lässt sich festhalten, dass zu Beginn ein Zuständigkeitsproblem zwischen den Akteuren herrschte und bei der Vielzahl an einzelnen Konzepten keine klare Richtung zu erkennen war.

Im darauffolgenden Intervall 2011-2016, das durch eine Regierungskoalition von Grünen und SPD gekennzeichnet war, änderte sich die Akteurskonstellation. Außerdem entschied Fritz Kuhn (Die Grünen) 2012 die Oberbürgermeisterwahl für sich. Die Grünen etablierten sich als wichtigster Akteur im Netzwerk und standen im Zentrum einer sternförmigen Struktur, in der sie eine Vielzahl von Konzepten vertraten (siehe Abbildung 2).

 

Abbildung 3 Darstellung mit Visone der Organisationen und Konzepte im Untersuchungszeitraum 2016-2019 (zum vergrößern klicken)

Mit dem Koalitionspartner SPD und den Oppositionsparteien CDU und SÖS-Linke-Plus waren die Grünen über jeweils ein Konzept verbunden. Viele Akteure und Konzepte – auch die wirtschaftlich orientierten – bewegten sich auf die Grünen zu. Die FDP war im Diskurs nicht mehr vertreten und verlor ihre Vermittlungsposition. Eine eigene abgetrennte Diskurs-Struktur bildete sich um das Vertragsverletzungsverfahren der EU und die Klagen der AnwohnerInnen des Neckartors.

Im finalen Untersuchungsintervall von 2016-2019 waren die Grünen weiterhin ein dominanter Akteur, was sich unter anderem auf das Prinzip der Pfadabhängigkeit zurückführen ließ. Sie boten eine geringere Anzahl an Konzepten an und gewannen an Profil. Der Koalitionspartner CDU etablierte sich ebenfalls als dominanter Akteur. Auffallend war der „Ring“ zwischen Grünen und CDU, der eine zweiseitige Verbindung über mehrere andere Akteure offenbart und Gemeinsamkeiten aufdeckt (siehe Abbildung 3).

Abbildung 4 Darstellung mit Visone der Organisationen und Konzepte im Radial-Layout (zum vergrößern klicken)

Die Oppositionsparteien waren ganz aus dem Netzwerk verschwunden. Es bildeten sich eine Reihe von Randgruppen: zum einen die wirtschaftlichen Akteure und zum anderen die Deutsche Umwelthilfe. Porsche unterstützte durch diverse Maßnahmen auf Arbeitgeberseite zur Finanzierung von Jobtickets für Mitarbeiter die Attraktivität des ÖPNVs. Erstmals waren Lungenfachärzte im Diskurs vertreten, die vor anderen Risikofaktoren neben dem Feinstaub warnten.

Kritisch diskutiert wurden Maßnahmen, die Einschränkungen der BürgerInnen mit sich brachten, wie Fahrverbote, die Einführung der Umweltplakettenregelung oder Tempolimits
(siehe Abbildung 4).

Abbildung 5 Darstellung mit Visone der Konzepte (zum vergrößern klicken)

Zusätzlich starteten viele Pilotprojekte wie eine Mooswand oder ein Feinstaubkleber, die aber kaum Erfolg brachten und daher wiedereingestellt wurden. Die Forderung nach verbindlichen Fahrverboten und deren Umsetzung hatte im Diskursverlauf die höchste Frequenz und bot innerhalb des Diskurses viel Konfliktpotenzial (siehe Abbildung 5). 

In der Analyse konnten Diskurskoalitionen visualisiert werden, die sich durch eine ablehnende Haltung (Automobil, Bevölkerung, FDP, Handwerk und Wirtschaft), eine moderate Einstellung (CDU und SPD) oder die Befürwortung von verbindlichen Fahrverboten (Baden-Württemberg, die Grünen, Stadt Stuttgart, Umweltschutz) charakterisieren lässt.

Das Ende vom Feinstaub in Stuttgart

Das Kapitel des Feinstaubs in Stuttgart bewegte viel in der politischen Landschaft und schuf Sensibilität bei BürgerInnen und Wirtschaft. Gleichzeitig stellte es alle Beteiligten vor zahlreiche Herausforderungen. Für die Verantwortlichen schien es mit Einhaltung der Grenzwerte vorerst abgeschlossen. Die bisherigen Erfahrungen bieten viel Lernpotenzial für den Umgang mit zukünftigen Problemstellungen, wie die Verringerung der Stickstoffwerte, die Stuttgart ebenfalls seit Jahren überschreitet. Eine Debatte über die Verschärfung der Grenzwerte in Richtung der WHO-Empfehlung, oder ein Fokus auf andere Luftschadstoffe könnten die politische Aushandlungsdynamik neu entfachen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert