“Es müsste so etwas geben wie ein Recht auf gesundes Wohnen”*

Umweltgerechtigkeit ist im Land Berlin im Leitbild verankert und vereint Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Menschen mit geringerem Einkommen und geringerer Bildung sind in Deutschland deutlich höheren Gesundheitsbelastungen ausgesetzt. Sie wohnen häufiger an stark befahrenen Straßen und sind dadurch auch häufiger betroffen von Lärm- und Luftverschmutzung. Eine Studie des Umweltbundesamtes bestätigte diese ungleiche Verteilung der Umweltbelastungen. Berlin strebt daher mit der Zielsetzung der Umweltgerechtigkeit eine Vermeidung der sozialräumlichen Konzentration dieser Umweltbelastungen an sowie die Gewährleistung eines sozialräumlich gerechten Zugangs zu Umweltressourcen.

Als erste Stadt in Deutschland wurde in Berlin eine Umweltgerechtigkeitskonzeption erarbeitet. Dabei sollen basierend auf einer sozialräumlich orientierten Umweltbelastungsanalyse Strategien und Maßnahmen in den Bereichen Stadtplanung, Städtebau, Umwelt und Gesundheit entwickelt und umgesetzt werden. Auffällig ist dabei, dass bestimmte Quartiere und Haushalte aufgrund additiver Effekte häufig mehrfachen Belastungen zugleich ausgesetzt sind.

Umweltbelastungen umfassen etwa Lärmbelastungen z.B. entlang von innerstädtisch verlaufenden (Bundes-)Straßen, Luftschadstoffbelastungen durch Verkehrsemissionen oder mikroklimatische Belastungen wie das vermehrte Ausbleiben der Abkühlung der Temperatur während “Hitzenächten”. Ein weiterer Faktor ist die schlechtere Erreichbarkeit öffentlicher Parks und Grünflächen.

Um diese Strategie der Umweltgerechtigkeit umzusetzen, wurde als grundlegendes Instrument eine Umweltgerechtigkeitskarte implementiert. Im Zuge von Interviewgesprächen wurde deutlich, dass dieser Umweltatlas hart umkämpft war. Erst nach langjährigen Auseinandersetzungen ist es gelungen, diese Daten der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen – wenn auch mit mittlerweile nicht mehr ganz aktuellen Daten von 2010-2014. Die Veröffentlichung dieser Umweltdaten, in Verbindung mit der sozialräumlichen Darstellung, ermöglicht es nachzuvollziehen, wie stark die Umweltbelastung in bestimmten Wohnlagen in Berlin tatsächlich ist.

Eine innenstädtisch gelegene Wohnung verliert möglicherweise an Wert, wenn in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion darüber geführt wird, dass die Lebenserwartung durch die Luftbelastung in bestimmten Gebieten um einige Jahre kürzer ist als in einer weniger belasteten Wohnlage. Ein ehemaliger Abteilungsleiter im Umweltbundesamt und international anerkannter Experte für Luftreinhaltung berichtete im Interview zudem, dass er gerne einen „Sterbeatlas“ veröffentlicht hätte. Dieser „Atlas“ würde nachvollziehbar machen, in welchen Quartieren die Umweltbelastungen in einer verkürzten Lebenserwartung resultieren.

Die Publikation scheiterte ihm zufolge jedoch, da befürchtet wurde, dass aufgrund der Daten Forderungen aus der Zivilgesellschaft an den Staat gestellt werden würden und womöglich ein rechtlicher Anspruch daraus abgeleitet werden könne. „Daten sind die beste Waffe im Kampf gegen Luftverschmutzung“ und nur wenn diese Daten zuverlässig erhoben und dokumentiert werden, können sie vor Gericht standhalten und dazu führen, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um Geschädigte zu schützen.

 

Häuserblock in Berlin

Über diesen Beitrag:

Verfasst von Johanna Betz und Dr. Melanie Nagel
Veröffentlicht am 17. Mai 2021

Gliederung

Umweltinformationsrecht – Zugang zu Umweltinformationen für alle Bürger:innen

Die Aushandlung des öffentlichen Guts saubere Luft im Zusammenhang mit der Wohnlage und die umweltfreundliche Reorganisation des städtischen Raums

Kampf um die Nutzung öffentlicher Flächen

Aushandlungsprozesse über die Nutzung von öffentlichen und privaten Flächen – was bleibt?

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Bildquellen

Titelbild: Marcus Lenk auf unsplash 

Karte 1: Umweltatlas Berlin

Umweltinformationsrecht – Zugang zu Umweltinformationen für alle Bürger:innen

„Jede Person hat nach dem Umweltinformationsrecht freien Zugang zu Umweltinformationen bei informationspflichtigen Stellen. Bund und Länder haben dazu Regelungen erlassen, die die völkerrechtlichen Vorgaben („erste Säule“ der Aarhus-Konvention) sowie die Umweltinformationsrichtlinie 2003/4/EG der Europäischen Union umsetzen.“ (BMU Umweltinformationsgesetz)

Gemäß diesem Umweltinformationsrecht erscheint es naheliegend, Daten über Umweltbelastungen für alle Bürger:innen verfügbar zu machen. Dies beinhaltet auch die Information und Aufklärung über Umweltrisiken innerhalb eines Quartiers. Dies könnte einen Beitrag zu einer differenziert geführten, öffentlichen Debatte über partizipative, planerische Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltbelastungen leisten. Allerdings dürften die daraus resultierenden Forderungen nach mehr Schutz und entsprechenden Maßnahmen in benachteiligten Quartieren aufgrund unzureichender finanzieller und personeller Ressourcen oft nur schwer zu erfüllen sein.

Die Aushandlung des öffentlichen Guts saubere Luft im Zusammenhang mit der Wohnlage und die umweltfreundliche Reorganisation des städtischen Raums

Die gegenseitige Durchdringung unterschiedlicher öffentlicher Güter tritt am Beispiel der Debatte um den Umweltgerechtigkeitsatlas in Berlin deutlich hervor. Der Konflikt zeigt, wie stark politisch umkämpft insbesondere sektorübergreifende, interdisziplinäre Verhandlungen sind, die raumbezogen unterschiedliche öffentliche Infrastrukturen in ihrem Zusammenspiel analysieren. Wie sind die Straßen gestaltet? Gibt es Sitzgelegenheiten in Grünflächen, die zum Verweilen einladen, sichere Wegeführung für den Fuß- und Radverkehr, oder dominieren Autos und Parkplätze das Stadtbild? Wie wird auf die Bedürfnisse von mobilitätseingeschränkten Personen oder Kindern eingegangen? In welchem Verhältnis stehen Lebensqualität im öffentlichen Raum, Mikroklima und Luftqualität und Wohnverhältnisse in den an den öffentlichen Raum grenzenden Gebäuden? Fragen der Gestaltung des öffentlichen Raums, der Luft- und Umweltqualität, Gesundheit und der (bezahlbaren) Wohnraumversorgung sind eng miteinander verkettet. Wie in den Interviews deutlich wurde, bezogen in der Aushandlung Akteur:innen aus mit Umweltthemen befassten Ämtern und Institutionen grundsätzlich andere Positionen wie Vertreter:innen der Immobilienwirtschaft oder ihr nahestehende Politiker:innen. Letztere wollten scheinbar alle Register ziehen, um einen möglichen Wertverfall städtischer Bestände zu verhindern.

Die Aushandlung zeigt, dass eine finanzialisierte, rein am Tauschwert ausgerichtete Wohnungswirtschaft anscheinend kein Interesse daran hat, transparente Daten zu Umweltbelastungen bereitzustellen. Eine zeitgemäße öffentliche Debatte über diese Belastungen und Maßnahmen der ökologischen Transformation wird damit erschwert. Das macht deutlich, dass eine vielfältige wohnungswirtschaftliche Akteurslandschaft, die sich primär aus demokratisch kontrollierten öffentlichen Wohnungsunternehmen, Genossenschaften und Mietshäusersyndikaten zusammensetzen würde, nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten positiv zu bewerten wäre, sondern auch einen wichtigen Baustein für die sozial-ökologische Wende in den Städten darstellt. Eine überwiegend gemeinwohlorientiert agierende Wohnungswirtschaft sollte verhindern können, dass die umweltfreundliche Reorganisation des städtischen Raumes in steigenden Mietpreisen und Verdrängung resultiert. Davor wird bereits gewarnt, u.a. in Zeitungsartikeln, die auf steigende Preise in Quartieren mit verkehrsberuhigten Zonen verweisen (Zeit Online 01.04.2021). Ein weiterer Aspekt ist die CO²-neutrale Sanierung von Gebäuden. Die hierfür eingesetzten (Fassaden-)Baustoffe kommunizieren über Erosionen, Auswaschungen und Verdunstungen nicht nur mit der Luft- und Wasserqualität in der Wohnung, im Quartier und an weiter entfernt gelegenen Produktionsstandorten sowie Transportweg. Sie haben auch soziale Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bewohner:innenschaft.

Auffällig dabei ist, dass sich finanzmarktorientierte Akteure auf dem Wohnungsmarkt als umweltbewusst und ökologisch in Szene setzen. Sie realisieren – wie wir es derzeit u.a. bei Vonovia beobachten können – neue Profitmargen über ökologische Framings oder / und ökologische Sanierungen, die den Aktionär:innen sichere, mitunter über staatlich subventionierte Förderprogramme garantierte, Renditen in Aussicht stellen. Doch in der Regel werden im Falle „nachhaltiger“ energetischer Sanierungen globale Produktionsketten, die z.B. für die Herstellung und den Transport von Dämmungsmaterial notwendig sind, oft bei der Bewertung der ökologischen Bilanz der Maßnahme nicht mit in Betracht gezogen. Dadurch werden sie ihrem eigenen Anspruch häufig nicht gerecht. Außerdem kommt es im Zuge von energetischen Sanierungen und den daraufhin einsetzenden Mietsteigerungen oft zur Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte. Vonovia betont zwar: „Die durchschnittliche Umlage hierfür [für energetische Sanierung] liegt bei 1,24 Euro und maximal bei 2 Euro pro Quadratmeter“. Doch angesichts der bereits angespannten Lage auf den Wohnungsmärkten und insbesondere in den Beständen finanzmarktorientierter Eigentümer führt das für viele Bewohner:innen in untragbaren Mietbelastungsquoten und Verdrängung.

In manchen öffentlichen Debatten entsteht vor diesem Hintergrund der Eindruck, dass entweder soziale oder ökologische Maßnahmen zur Anwendung kommen könnten. Diese diskursive Zuspitzung verkürzt jedoch und trägt der derzeitigen gesellschaftlichen Situation nicht ausreichend Rechnung, in der sich sowohl drängende ökologische als auch soziale Fragen stellen. Diese sollten integral bearbeitet werden (s. Großmann 2020, Vollmer und Michel 2020).

Wenn dieselben Akteure, die den Tauschwert der Immobilie ihren sozialen und ökologischen Komponenten gegenüber priorisieren, innerhalb des staatlichen Gefüges ihren Einfluss derart wirksam machen können, dass – wie im Falle des Umweltgerechtigkeitsatlas – die Publikation von Daten über Umweltbelastungen mit Quartiersbezug über Jahre hinweg wirksam blockiert werden und sie damit das Recht auf Information über Umweltbelastungen negativ beeinflussen, steuern sie den Verlauf von Debatten über Umweltgerechtigkeit und die Grundversorgung mit öffentlichen Gütern wie Gesundheit und sauberer Luft.

Karte 1: Verkehrsmengen Berlin 2014: Umweltatlas (Klicken zum Vergrößern)

Kampf um die Nutzung öffentlicher Flächen

Öffentliche Räume und deren Nutzung sind stark umkämpft. Lange hat sich die städtebauliche Planung am Automobil-Paradigma orientiert (s. dérive – Zeitschrift für Stadtforschung Nr. 83: Mobilität und Stadtplanung). Besonders deutlich wird dies an Standorten der Automobilindustrie, wie München oder Stuttgart. In Berlin ist der Anteil der Bürger:innen ohne eigenes Auto deutlich höher als in den meisten anderen europäischen Metropolen. Der ÖPNV bietet dort eine attraktive Alternative. Der Volksentscheid Fahrrad in Berlin hat erreicht, dass 2018 Deutschlands erstes Rad- und Mobilitätsgesetz verabschiedet wurde. In Zeiten der Covid-19 Pandemie wurden nach dem Vorbild der „Barcelona Super-Blocks“ (Spiegel Bericht vom 27.10.2020) in Berlin sogenannte „Kiez-Blocks“ installiert, zudem wurden viele Pop-up-Radwege geschaffen, indem Straßenspuren für Autos blockiert und für Radfahrer:innen freigegeben wurden. In vielen bisher geführten Interviews wurden diese Beispiele lobend erwähnt und dennoch auch deutlich gemacht, dass diese städtischen Flächen hart umkämpft sind. Es seien zwar erste Erfolge sichtbar, viel Überzeugungsarbeit müsse jedoch noch geleistet werden.

Aushandlungsprozesse über die Nutzung von öffentlichen und privaten Flächen – was bleibt?

Die bisher geführten Interviews legen nahe, dass der Takt von Debatten über Umweltgerechtigkeit von der Immobilienwirtschaft, der Automobillobby sowie deren Verbündeten in politischen Parteien vorgegeben wird. Der Gewährleistungsstaat stößt hier an Grenzen, da profitorientierte Akteure ihren Einfluss so stark ausbauen konnten, dass sie den Verlauf gesellschaftlich notwendiger Debatten in enge, marktkonforme Bahnen lenken und somit notwendige demokratische Aushandlungsprozesse und entsprechende politische Maßnahmen verzögern. Es ist ein „bisschen wie David gegen Goliath“  (Deutschlandfunk Bericht 21.03.2016), immer wieder wurde in den Interviews gesagt, dass die Machtverhältnisse sehr ungleich verteilt seien und nur sehr langsam und mühsam Erfolge erzielt werden können. Besonders wichtig sei die öffentliche Debatte zu Umweltgerechtigkeits-Themen. Dadurch könnten die betroffenen Bewohner:innen für Gesundheitsgefahren sensibilisiert werden. Auf die politisch Verantwortlichen wachse der öffentliche Druck, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Trotz all dieser Unzulänglichkeiten und Defizite ist Berlin dennoch ein Beispiel, das Hoffnung wecken könnte und zeigt, dass engagierte Bürger:innen beim Radentscheid Stimmung machen und politische Entscheidungen herbeiführen können. Nur wenn der Druck aus der Zivilgesellschaft stark genug ist und staatliche Entscheidungsträger:innen gewillt sind, können die Weichen gestellt werden für eine sozial- und umweltgerechte Umgestaltung  urbaner Räume.

*Dieser Satz stammt aus einem Interview mit einer Führungsperson in einer Berliner Bezirksstadtverwaltung.

 

Quellen 

#Kiezblocks – eine Kampagne von Changing Cities https://www.kiezblocks.de/ zuletzt geprüft am 05.05.2021

Deutschlandfunk (21.03.2016): „Der Schreck der Autoindustrie“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/aktivist-axel-friedrich-der-schreck-der-autoindustrie.2165.de.html?dram:article_id=348925 , zuletzt geprüft am 16.05.2021

Großmann, Katrin (2020): Gebäude-Energieeffizienz als Katalysator residentieller Segregation. Kommentar zu Lisa Vollmer und Boris Michel „Wohnen in der Klimakrise. Die Wohnungsfrage als ökologische Frage“. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadt-forschung 8 (1/2), S. 199–210.

Spiegel Bericht vom 27.20.20 von Holger Dambeck und Helene Zuber „Barcelona. Wie eine Stadt mit Superinseln die Verkehrswende schaffen will“  https://www.spiegel.de/wirtschaft/verkehrswende-in-barcelona-auf-superinseln-haben-fahrraeder-und-fussgaenger-vorrang-a-2c5f7774-7fb5-4965-9ed2-afe85010f7c5 zuletzt geprüft am 05.05.2021

Stadt Berlin (2021): „Umweltgerechtigkeitsatlas“ https://www.berlin.de/umweltatlas/ zuletzt geprüft am 05.05.2021

Stadt Berlin, Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (2021): „Umweltgerechtigkeit“ https://www.berlin.de/sen/uvk/umwelt/nachhaltigkeit/umweltgerechtigkeit/ zuletzt geprüft am 05.05.2021

Volksentscheid Fahrrad https://volksentscheid-fahrrad.de/de/willkommen-beim-volksentscheid/ zuletzt geprüft am 05.05.2021

Vollmer, Lisa; Michel, Boris (2020): Wohnen in der Klimakrise. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 8 (1/2), S. 163–166.

Zeit Online (01.04.2021): Wenn Kieze die Autos verdrängen; In Berlin sollen nach dem Vorbild Barcelonas Blocks entstehen, in denen kaum noch Autos fahren dürfen. Nicht alle sind von der Idee begeistert. Von Lukas Scheid, https://www.zeit.de/mobilitaet/2021-04/superblocks-berlin-barcelona-wohnviertel-verkehrswende-kiezblocks, zuletzt geprüft am 05.05.2021

Zeitschrift derivé Heft 83 (2021): „Mobilität und Stadtplanung“  https://derive.at/zeitschrift/83/

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