Die Wiederbelebung der Integrierten Versorgung durch Regionalisierung?

Am Montagmorgen bezeichnete die vor wenigen Minuten ernannte Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock, Gesundheitsregionen, insbesondere in ländlichen Regionen, als Politik des „Neuen, das schon Realität ist“ (ZEIT, vom 19.4.2021). Sie ermöglichen, so Baerbock, neue Formen der Zusammenarbeit, um alle in der Fläche zu versorgen. Mit einer Reformidee zu den Gesundheitsregionen betraten die Grünen bereits im vergangenen Jahr gesundheitspolitisches Terrain. Im August 2020 legte die Fraktion einen Antrag zur stärker regionalen Verankerung der Gesundheitsversorgung vor. Sogenannte „Gesundheitsregionenverträge“ sollen der Integrierten Versorgung neues Leben einhauchen. Die Pandemie habe gezeigt, „welche große Bedeutung (…) verlässliche Versorgungsangebote und eine gute Koordination und Integration der Gesundheitsversorgung insbesondere auf der regionalen Ebene haben“ (BT-Drs. 19/21881: 1). Es geht um die zukünftige Rolle der Kommunen und um neue und alte Kompetenzen in der Gesundheitsversorgung. Damit thematisieren die Grünen zwei zentrale Sachfragen in der Debatte um die Versorgung ländlicher Regionen.

Am 24. März 2021 kam es zur Anhörung des Antrages im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, in der Sachverständige aus dem korporatistischen Arrangement den Abgeordneten Rede und Antwort standen. Der vorliegende Beitrag nennt die zentralen Forderungen des Reformantrags und diskutiert die zentralen Beharrungskräfte, die der Umsetzung des Antrags in seiner vorliegenden Form aber auch einer Regionalisierung der Versorgungsstrukturen im Allgemeinen im Wege stehen.

Der große Boom flächendeckender IV-Verträge blieb aus 

Die rund 20-jährige Geschichte der Integrierten Versorgung (IV) ist selbst nach umfänglichen Diskussionen und Reformen von überschaubarem Erfolg gekrönt. Im Jahre 2000 reagierte die rot-grüne Koalition mit der IV des § 140a ff SGB V auf diverse Problemfelder im Gesundheitssystem: Doppelstrukturen, Qualitätsmängel, Versorgungsdisparitäten und wachsenden Partikularinteressen sollten über die Möglichkeit von sektorübergreifenden, populationsbezogenen Projekten Einhalt geboten werden. Nach und nach hätte deren Erfolge in die Regelversorgung überführt werden sollen.

Die Realität zeigte jedoch, wie voraussetzungsvoll Koordination und Kooperation sind. Vor diesem Hintergrund reduzierte die Gesundheitsreform von 2004 die Regelungstiefe und -dichte der IV, indem sie sie aus dem Kollektivvertragssystem und damit dem Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) herauslöste. Der Zusatzaufwand gegenüber der sektoralen Regelversorgung blieb jedoch zu groß. Aus Perspektive der Leistungserbringer entsteht der Nutzen weiterhin primär bei den PatientIinnen und den Krankenkassen. Eben diese Leistungserbringer, oder eigens für den Zweck der IV gegründete Konsortien und Managementgesellschaften, hoffen aufgrund der gesetzlichen Regelungen darauf, dass die Kassen zusätzliche Koordinierungsinvestitionen finanzieren. Oder aber sie investieren selbst und werden in Form von sogenannten „Integrationsdividenden“ an den Erfolgen beteiligt. Insbesondere die Unsicherheit tatsächlicher Einsparungen, die Komplexität der Erfolgsmessung und der innersektorale Wettbewerb ließen den Ausbau der IV in der Vergangenheit scheitern (Hildebrandt et al. 2020: 167f). Hingegen wird vielfach an bekannten Strukturen festgehalten. Man steht nun also vor einem bekannten Problem: Der Rechtsrahmen gibt die Besondere Versorgung, wie sie seit 2015 heißt, her, Strukturen und konkurrierende Akteursinteressen wirken jedoch innovationshemmend. Zudem beobachten Experten, dass „(d)er hohe Anspruch, mit der Integrierten Versorgung nach und nach die bisherige Regelversorgung zu ersetzen, sich in der derzeitigen gesundheitspolitischen Diskussion kaum noch“ findet (Brandhorst et al. 2017: 25).

„Aufbruch für mehr Kooperation und Vernetzung in der Versorgung“ 

In diese Konstellation fehlender IV-Verträge in der Praxis einerseits und vermehrter Forderung integrierter Lösungen für die fragmentierte Versorgungslandschaft andererseits tritt der Vorschlag der Grünen. Die AutorInnen kritisieren ein stark spezialisiertes, ärztlich dominiertes und auf Einzelleistungen abstellendes Gesundheitssystem. Es sei zur „akuten Versorgung einzelner Erkrankungen gut geeignet“, behindere allerdings vor dem Eindruck des demografischen Wandels und seiner Effekte eine „adäquate Versorgung“ (BT-Drs. 19/21881: 2). Der Fachkräftemangel, insbesondere in ländlichen und einkommensschwachen Regionen, wird als Folge dieser Schwächen verstanden.

Die zentralen Reformkomponenten des Antrags umfassen folgende Ziele:

  • Versorgung von 10% der Bevölkerung in Gesundheitsregionen bis 2025,
  • notwendige Anreize für beteiligte Kassen sollen aus dem Gesundheitsfonds gewährt werden,
  • Initiativrecht für (regionale) Akteure, mit dem Ziel, die Krankenkassen zum Abschluss konkreter Verträge auffordern und eine Begründung bei Nichtabschluss einfordern zu können,
  • Etablierung und Einbindung kommunaler Gesundheitskonferenzen,
  • Förderung regionaler Akteure und Länder beim Aufbau von Gesundheitsregionen.

„Ja, aber…“

Die Befragung der Sachverständigen im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags legt kursorisch dar, wie umkämpft bereits inkrementelle Schritte hin zum Ausbau regionaler Handlungsspielräume sind. Im Prinzip befürworten die GesundheitsexpertInnen die regionale Vernetzung, ihre Vorbehalte gegenüber den Einzelheiten des Reformantrags legen allerdings grundlegende Bedenken offen.

Der Antrag sieht für Gesundheitsregionen vor, dass ein zu etablierender Verbund (Managementgesellschaft) Vertragspartner der Kassen in der Region wird. Diese Managementstruktur übernimmt die Organisation der ambulanten und stationären Versorgung und die virtuelle Budgetverantwortung. Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg, verweist darauf, dass Kassen jedoch keinesfalls auf ihre Rolle als Financiers reduziert werden wollen, sondern als Mitgestalter eine inhaltliche Beteiligung anstreben. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist dem Initiativrecht und der damit verbundenen Rechtfertigungspflicht der Kassen bei Nichtteilnahme gegenüber skeptisch eingestellt, allerdings aus einem anderen Grund als Herr Mohrmann. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, geht davon aus, dass es den Kassen nicht schwerfallen wird, Gründe für eine Nichtteilnahme zu finden. „Idealerweise sollten die Anträge (deshalb) schon vor Nutzung des Initiativrechts ein Stadium der Konsensbildung durchlaufen haben.“ (KBV 2021: 4) Vor diesem Hintergrund schlägt die KBV vor, diese Aufgabe einer bereits bestehenden Struktur, dem Landesgremium nach § 90a SGB V zu überweisen. Sie wirbt bei der Frage von neuen und alten Vertragspartnern für die Managementqualitäten des Verbandes: „Die Etablierung weiterer, möglicherweise durch Private Equity-Kapital finanzierte Managementstrukturen oder -gesellschaften wird überaus kritisch gesehen.“ (ebd.) Selbst der GKV-Spitzenverband, der Dachverband der Krankenkassen auf Bundesebene, befürchtet, dass der „einseitige Handlungsdruck“ auf die Krankenkassen innovationshemmende Effekte nach sich ziehen könnte. Das Problem fehlender Anreize für die Kassen zum Abschluss von populationsbezogenen Versorgungsverträgen wäre somit keinesfalls gelöst.

Die Anhörung legte widerstreitende Vorstellungen zur Finanzierung und den Anreizmechanismen der Gesundheitsregionen offen. Der Antrag sieht vor, dass der Verbund seine Managementkosten aus der Differenz zwischen den tatsächlichen Versorgungskosten in der Region und den morbiditätsadjustierten Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds finanziert. Der Gesundheitsfonds und damit verbunden der Risikostrukturausgleich (RSA) als Finanzquelle erfahren starke Ablehnung aus den Reihen der GesundheitsexpertInnen. Aus ordnungspolitischer Sicht ist der RSA versorgungsneutral, er dient nicht als Leistungssteuerungsinstrument. Frank Knieps, Vorstand des BKK Dachverbands, plädiert dafür, dies beizubehalten und auch in Zukunft nicht an das betriebswirtschaftliche Kalkül der beteiligten Akteure zu appellieren. Michael Weller vom GKV-Spitzenverband unterstützt diese Forderung, zumal eine entsprechende Finanzierung Anreize schaffen würde, „günstige Regionen“ mit einer bereits vernetzten, innovativen Leistungserbringerstruktur, anstelle von Regionen ohne entsprechende Voraussetzungen zu fokussieren (GKV-SV 2021: 7). Dort notwendige Zuweisungen würden aufgrund des endlichen Budgets des RSA schrumpfen.

Die KBV monierte zudem negative Erfahrungen mit Selektivverträgen. Entsprechende Strukturen sind in der Regel für eine begrenzte Versichertenklientel zugänglich. Einzig das AOK-System sei in der Lage indikationsübergreifend Versicherte in die Versorgungsstruktur aufzunehmen. Mit Blick auf die angedachten begleitenden Austauschprozesse (z.B. Gesundheitskonferenzen) sei es notwendig Akteursstrukturen weitestgehend zu integrieren, um Doppelverpflichtungen und einen bürokratischen Mehraufwand zu verhindern (KBV 2021: 4).

Die anvisierte Zusammenarbeit zwischen ÄrztInnen und anderen Gesundheitsberufen offenbart standespolitische Skepsis: „Die Diversifizierung der Gesundheitsberufelandschaft führt zu einer für Patientinnen und Patienten immer unübersichtlicheren Versorgung“ kritisiert die KBV (ebd.: 5). Andreas Gassen führt dazu aus, dass man Interprofessionalität zwar begrüße, Aufgabenzuständigkeiten jedoch klar bei den Körperschaften verorte. In engem Austausch könne man sich eine Kooperation mit sog. Physician Assistants vorstellen. Eine Delegation „einfach so“ lehnt auch Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, ab. Er schätzt die Effekte gering ein, zumal es einige Berufsbilder, wie die Community Health Nurse, noch gar nicht gebe.

Fazit 

Die grundsätzliche Zustimmung einer Regionalisierung der Versorgungspraxis steht, wie dargelegt, auf tönernen Füßen. In Detailfragen, insbesondere mit Blick auf Finanzierungskonzepte, Kompetenzumwälzungen und Delegationsformen, werden verhärtete Fronten sichtbar. Einig ist man sich bei den Vernetzungschancen und dem demokratischen Potenzial, das Gesundheitskonferenzen bieten. Das ist sehr zu begrüßen. Auch die geteilte Skepsis gegenüber Private Equity-Kapital in der Gesundheitsversorgung scheint vor dem Hintergrund vergleichbarer Erfahrungen im stationären Sektor und in der fachärztlichen Versorgung berechtigt. Allerdings bleibt an dieser Stelle vollkommen offen, welche Impulse unter der kommenden Regierung – ob nun grüngeführt oder nicht – Früchte tragen. Wahrscheinlich scheint, was die Geschäftsführerin der Metropol Rhein-Neckar, Christine Brockmann, empfahl und seit Jahren gesundheitspolitische Maßnahmen im Bereich neuer und innovativer Versorgungsformen charakterisiert: „man müsse es einfach mal ausprobieren“.

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